Freitag 19. Dezember 2025

Die Tauben

Rose Ausländer
Taube am Himmel - Heiliger Geist. © haml/morguefile.com

In Rose Ausländers Gedicht "Die Tauben", überlagern sich zwei traditionelle Botengestalten, nämlich Engel und Tauben.

Engel schlummern in ihnen
Längst haben sie 

ihre Mission erfüllt
Briefe befördert
Frieden verkündet


Gott hat sie wohl
im Schlaf erschaffen
in einem Traum ihre Gestalt erfunden
ein zartes Poem pastellbefiedert
mit rotem Ring um den Augenkreis


Schuldlos
unter Menschen geraten
ihrer Liebe preisgegeben


Längst ist der Engel
schlafen gegangen
in ihren Federn
Ihre Seele schwebt über Noah
Ihr Fleisch hungert nach Mais

 

 

Quellenangabe:
Ausländer, Rose. Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 2: Die Sichel mäht die
Zeit zu Heu, Braun, Helmut (Hg.), Frankfurt a. M. 1985 (S. Fischer), S. 199

 

 

 

Interpretation:

 

Das Gedicht beginnt die Beschreibung der Tauben mit einem Verweis auf die Engel:

 

"Engel schlummern in ihnen / Längst haben sie / ihre Mission erfüllt / Briefe befördert / Frieden verkündet".

 

 

Beide, so die erste Strophe des Gedichts, haben ihre Aufgabe bereits erfüllt. Somit zeigt sich der Blick auf Tauben und Engel als ein Rückblick auf etwas, das in der Gegenwart des Gedichts nur noch schlummernd angedeutet wird. 

 

Dieses Motiv des Schlafs setzt sich in der zweiten Strophe, in einem weiteren Rückblick auf ihre Erschaffung fort:

 

"Gott hat sie wohl / im Schlaf erschaffen / in einem Traum ihre Gestalt erfunden".


Das Traumhafte scheint den Engeln und Tauben von Anfang an zu Eigen zu sein. Die zunächst noch stärker verschwimmende Gestalt von Tauben und Engeln löst sich erst anschließend auf, und die Beschreibung kehrt zu den Tauben zurück. Die letzte Strophe greift noch einmal die Vorstellung des in den Tauben schlafenden Engels auf - "Längst ist der Engel / schlafen gegangen / in ihren Federn" - und betont damit noch einmal sowohl die Verbindung der beiden Botengestalten als auch die zeitliche Dimension der Vergangenheit. So erscheinen die Tauben als Wesen, die in ihrer Gestalt zwischen göttlicher und menschlicher Welt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermitteln:

 

"Ihre Seele schwebt über Noah / Ihr Fleisch hungert nach Mais".

 

Das Zeichen des Engels bleibt in diesem Gedicht zwar gewahrt, aber es wird in die Vergangenheit gerückt. So ist der Engel nicht direkt gegenwärtig, nur in den Tauben schlummert er noch zeichenhaft.

 

 

Quellenangabe:

Aus: "Sie reden die Luft zwischen den Wörtern" (Härtling). Biblisch-­lyrische Gespräche über Engel von Prof. Susanne Gillmayr-­Bucher (KTU Linz) erstmals erschienen in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 30 (2011), 55-67.

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