Dienstag 7. Mai 2024

Enzyklika "Fratelli tutti": Papst ruft zu neuer Weltordnung auf

Mit einem eindringlichen Plädoyer für Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft über alle Grenzen hinweg hat Papst Franziskus sich in seiner Enzyklika "Fratelli tutti", die am 4. Oktober 2020 veröffentlicht wurde, an die Menschheit gewandt.

Papst Franziskus hat am 4. Oktober 2020 seine neue Sozialenzyklika "Fratelli tutti" vorgestellt. Das Dokument sei wie das Vorgängerschreiben "Laudato si" (2015) von Franz von Assisi (1181/82-1226) inspiriert, sagte der Papst beim Mittagsgebet am Sonntag auf dem Petersplatz in Rom. "Die Zeichen der Zeit zeigen klar, dass die Geschwisterlichkeit aller Menschen und die Sorge um die Schöpfung den einzigen Weg zu umfassender Entwicklung und Frieden darstellen", so Franziskus. Die gleiche Richtung hätten Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. gewiesen.

 

Das Lehrschreiben mit dem Untertitel "Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft" entwirft Leitlinien für das Zusammenleben von Menschen und Nationen angesichts globaler Herausforderungen wie ungleicher Güterverteilung und Migration. Es ist die dritte Enzyklika des seit 2013 amtierenden Papstes. BesucherInnen auf dem Petersplatz erhielten das 287 Artikel umfassende Dokument als Sonderdruck der Vatikanzeitung "Osservatore Romano". n der veröffentlichten Sozialenzyklika "Fratelli tutti" mahnt der Papst zu einer Abkehr von Egoismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Nur so ließen sich die Folgen der Corona-Pandemie und globale Herausforderungen wie soziale Ungleichheit und Migration bewältigen.

 

Sein Schreiben, das Züge einer Sozialutopie trägt, richtet der 83-Jährige ausdrücklich an "alle Menschen guten Willens" unabhängig von ihrem Glauben. Die Anregung zu dem Text erhielt Franziskus nach eigenem Bekunden auch durch den ägyptischen Großimam Ahmad Al-Tayyeb, einen führenden Islam-Gelehrten. Als päpstliches Grundsatzdokument hat die Enzyklika hohe Verbindlichkeit für 1,3 Milliarden KatholikInnen weltweit.

 

In dem Text wirbt der Papst dafür, nach dem Vorbild des heiligen Franziskus andere Menschen unabhängig von Herkunft oder sozialer Zugehörigkeit in freundschaftlicher Offenheit "anzuerkennen, wertzuschätzen und zu lieben". Wer meine, die globalen Probleme nach der Corona-Krise mit den alten Systemen lösen zu können, sei "auf dem Holzweg". Inspirieren ließ sich der Papst nach eigenen Worten auch von Nichtkatholiken wie dem US-Bürgerrechtler Martin Luther King, dem südafrikanischen Anglikaner Desmond Tutu und Mahatma Gandhi.

 

Beim Umgang mit Konflikten mahnt der Papst eine Stärkung der Vereinten Nationen an und fordert die Unterordnung nationaler Interessen unter das globale Gemeinwohl. Erneut verurteilt er Krieg und Rüstung als Mittel der Politik. Auch wendet er sich gegen einen zu großen Einfluss der Wirtschaft. Er verlangt die Einbeziehung aller gesellschaftlicher Gruppen, auch der Schwächsten, in Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse. Dabei stellt er sich hinter eine "Option für die Armen" und das Recht auf kulturelle Identität gegen eine globale Gleichmacherei; diese verurteilt er als Kolonialismus.

 

Zum Thema Migration betont Franziskus, solange in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde fehlten, gelte es "das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann". Jedes Land sei "auch ein Land des Ausländers"; die Güter eines Territoriums dürften "einer bedürftigen Person, die von einem anderen Ort kommt, nicht vorenthalten werden".

 

Am Samstag war der Papst nach Assisi gereist, um die Enzyklika am Grab des heiligen Franziskus (1181/82-1226) zu unterschreiben. Der mittelalterliche Bettelbruder gilt als Vorbild für eine radikale Zuwendung zu allen Menschen und Geschöpfen. "Fratelli tutti" ist seine dritte Enzyklika und folgt auf "Laudato si" von 2015. Auch dieses Schreiben zu Umwelt und sozialer Gerechtigkeit verwies auf Franz von Assisi.

 

Gendersensibler Titel

 

Die dritte Enzyklika von Franziskus richtet sich mit einem gendersensiblen Titel ausdrücklich auch an Frauen. In der deutschen Fassung lautet er "Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft".

 

Im Vorfeld war es zu Unstimmigkeiten darüber gekommen, wie das italienische Wort "fratellanza" (wörtlich: Brüderlichkeit) am besten zu übersetzen sei. Nicht nur aus Deutschland wurden Stimmen laut, die eine inklusivere Variante forderten – mit Erfolg. Auch im weiteren Verlauf des mehr als 80 Seiten umfassenden Textes hat "Geschwisterlichkeit" die "Brüderlichkeit" an den meisten Stellen verdrängt.

 

Im Titel des Abu-Dhabi-Dokuments, das der Papst Anfang 2019 mit dem Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb veröffentlicht hatte, hieß es dagegen noch "über die Brüderlichkeit aller Menschen". In diesem Text kommt das Wort "Geschwisterlichkeit" kein einziges Mal vor.

 

Mit Blick auf die neue Enzyklika erklärte der päpstliche Mediendirektor Andrea Tornielli kürzlich: "Es wäre absurd zu meinen, die Formulierung des Titels beabsichtige, mehr als die Hälfte der Adressaten auszuschließen." Franziskus wolle sich "an alle Schwestern und Brüder, an alle Männer und Frauen guten Willens" wenden.

 

Papst warnt vor digitalen Medien

 

Einen mehrseitigen Abschnitt in seinem Rundschreiben "über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft widmet der Papst den neuen Medien. Er warnt darin vor schädlichen Auswirkungen der weltweiten digitalen Vernetzung. Diese allein "genügt nicht, um Brücken zu bauen", schreibt Franziskus. Sie sei "nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen". In einem weiteren Abschnitt der Enzyklika lobt er zwar das Internet für die Möglichkeiten zur Begegnung, es müsse aber  ständig überprüft werden, ob die heutigen Formen der Kommunikation "tatsächlich zu einer großherzigen Begegnung" führt.

 

Unter der Überschrift "Die Täuschung der Kommunikation" kritisiert der Papst, dass in der digitalen Welt "alles zu einem Schauspiel" werde. "Das Leben wird einer ständigen Kontrolle ausgesetzt." Dabei bröckele die Achtung vor den Mitmenschen, Schamgrenzen fielen, soziale Aggressivität breite sich aus.

 

"Dies geschieht mit einer Hemmungslosigkeit, die bei einem Zusammentreffen von Angesicht zu Angesicht nicht vorkommen könnte, weil wir uns sonst am Ende gegenseitig zerfleischen würden", so der Papst. Zudem bestehe die Gefahr, dass Nutzer bei der Entwicklung echter zwischenmenschlicher Beziehungen behindert würden. Denn die virtuelle Nähe im Netz sei nur eine scheinbare. "Es bedarf der körperlichen Gesten, des Mienenspiels, der Momente des Schweigens, der Körpersprache und sogar des Geruchs, der zitternden Hände, des Errötens und des Schwitzens, denn all dies spricht und gehört zur menschlichen Kommunikation."

 

Stattdessen führe die Vernetzung nicht selten zu "konsumistischer Abschottung" und zur Bildung "zerstörerischer Hassgruppen". Es handele sich nicht, wie manche glauben machen wollten, um Plattformen gegenseitiger Hilfe, sondern um "reine Vereinigungen gegen einen Feind". So würden "Menschen oder Situationen, die unsere Empfindsamkeit verletzt haben oder uns unangenehm waren, heute einfach in den virtuellen Netzen eliminiert", gibt Franziskus zu bedenken. "Auf diese Weise bilden wir einen virtuellen Kreis, der uns von der Umgebung, in der wir leben, isoliert."

 

Papst Franziskus hat am 5. Oktober 2020 die Enzyklika 'Fratelli tutti' veröffentlicht.

Papst Franziskus stellte am 4. Oktober 2020 beim Mittagsgebet seine neue Sozialenzyklika "Fratelli tutti" vor. © Stefano Spaziani

 

Schönborn: Papst erneuert "revolutionäre Lehre von Menschheitsfamilie"

 

Die Sozialenzyklika "Fratelli tutti" steht in großer Kontinuität der kirchlichen Lehre und erneuert die "revolutionäre Lehre von der einen Menschheitsfamilie". Das betonte Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 4. Oktober 2020 im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress unmittelbar nach Veröffentlichung des neuen Lehrschreibens von Papst Franziskus. Der Papst beschreite mit diesem Dokument einmal mehr den Weg des Dialogs, der sein Pontifikat auszeichne. "In dieser Haltung wagt Franziskus gemeinsam mit Großimam Ahmad Al-Tayyeb das Dokument von Abu Dhabi zu unterzeichnen und mit dieser Enzyklika offiziell in die Katholische Soziallehre aufzunehmen", betonte der Wiener Erzbischof.

 

Wie das Mitglied der vatikanischen Glaubenskongregation ausführte, gehöre die Lehre von der Einheit des Menschengeschlechts zum Kern des jüdisch-christlichen Glaubens und sei biblisch tief verankert. "Ein Schöpfer, ein Ursprung des Menschengeschlechts, eine Menschheitsfamilie - ohne das Wissen um diese Basis ist die Enzyklika überhaupt nicht verständlich", sagte Schönborn. Bereits der Philosoph Max Horkheimer habe über diese Glaubensüberzeugung gesagt: "Das ist die revolutionärste Lehre der Bibel", so der Kardinal, der darauf verwies, dass schon im Judentum und dann im Christentum diese Lehre "eine enorme soziale Dynamik entwickelt hat. Verbunden mit Lehre von der Schöpfung ist es die Überzeugung, dass wir alle Geschwister sind, fratelli tutti."

 

"Sprache des Aufstands"

 

Die von Papst Franziskus betonte globalen Geschwisterlichkeit werde sicherlich Kritik erfahren, zeigte sich der Kardinal überzeugt und verwies abermals auf die Geistesgeschichte. So habe der griechische Philosoph Kelsos bereits im 2. Jahrhundert mit seiner antichristlichen Streitschrift die Lehre von der Einheit des Menschengeschlechts bekämpft und gemeint: "Das ist die Sprache des Aufstands, der Revolution", weil damit behauptet werde, dass Römer und Barbaren dieselben Wurzeln hätten. "Genau das hat die christliche Lehre aber immer vertreten, auch wenn die christliche Praxis leider immer hinterhergehinkt ist", so Schönborn.

 

"Aus dieser christlichen Überzeugung heraus wurden im 16. Jahrhundert das Völkerrecht und die Verteidigung der Rechte der Indios formuliert", erklärte der Kardinal und fügte weiter Beispiel an. So habe William Wilberforce "aus derselben Überzeugung heraus" im Englischen Parlament gegen die Sklaverei plädiert, Papst Pius XII. in seiner ersten Enzyklika 1939 gegen den Rassismus argumentiert, sich Papst Johannes XXIII. mit der großen Friedensenzyklika "Pacem in terris" an alle Menschen guten Willens gewendet. "Mit dieser christlichen Überzeugung hat Paul VI. seine große Dialogenzyklika "Ecclesiam suam" geschrieben, Papst Johannes Paul II. 1986 das Weltgebetstreffen in Assisi initiiert und die Kirche durch alle Jahrhunderte gelehrt – und Franziskus wiederholt es nachdrücklich, dass die Güter dieser Erde allen Menschen zugedacht sind", unterstrich der Kardinal und sagte: "Der Traum der Geschwisterlichkeit und der Sozialen Freundschaft, den Franziskus vorlegt, ist daher urbiblisch, urchristlich und die Medizin für eine kranke Welt."

 

"Medizin für kranke Welt"

 

Mitten in das Schreiben der Enzyklika "brach unerwartet die Pandemie Covid-19 aus, die unsere falschen Sicherheiten offenlegte", zitierte Schönborn den Papst und sagte, dass es wohl erstmalig in der Menschheitsgeschichte sei, dass "ein Virus die ganze Welt in seinen Griff nimmt. Dieses Virus nötigt uns dazu, zu begreifen, dass wir wirklich eine Menschheitsfamilie sind. Es ist, als wollte uns die Natur oder der Schöpfer selber darauf hinweisen, dass wir eine solche Krise nur gemeinsam meistern können", sagte der Kardinal.

 

Daher schreibe der Papst ganz deutlich in der Enzyklika: "Ich habe den großen Wunsch, dass wir in dieser Zeit, die uns zum Leben gegeben ist, die Würde jedes Menschen anerkennen und bei allen ein weltweites Streben nach Geschwisterlichkeit zum Leben erwecken", so Schönborn, der gleichzeitig betonte: "Papst Franziskus ist mit diesem Wunsch nicht naiv, wie auch der heilige Franziskus nicht naiv war, als er uns eine dem Evangelium gemäße Lebensweise vorlebte und empfahl. Der Papst liefert in 'Fratelli tutti'  gewissermaßen die Roadmap für diese dem Evangelium gemäße Lebensweise."

 

Franziskus mache sich freilich keine Illusionen, dass dieser Weg nicht ohne Schwierigkeiten umzusetzen wäre. Schönborn: "Das Haupthindernis benennt der Papst ausführlich. Es ist die Grundentscheidung in jedem Menschenleben, sich selber oder den Nächsten in den Mittelpunkt zu stellen. Nur die selbstlose Hingabe macht ein geschwisterliches Leben möglich." Es verwundere daher auch nicht, dass sich der Papst bei seinen Überlegungen zur Geschwisterlichkeit aller Menschen "nicht nur an Franz von Assisi orientiert, sondern auch an nichtkatholischen und nichtchristlichen Menschen, die die Geschwisterlichkeit aller Menschen entschieden vorgelebt haben", schloss der Kardinal.

 

Enzyklika "Fratelli tutti" auf Deutsch im Wortlaut

 

Lesen Sie auch:
Kathpress-Schwerpunkt: www.kathpress.at/FratelliTutti

 

Kathpress

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