Der Wolf an der Krippe
Am Beginn meines Studiums erzählte uns Monika Nemetschek eine mich bereits damals fesselnde und bewegende Geschichte, die ich jetzt in einem ihrer Bücher wieder gefunden habe: Eine adventliche Weihnachtsgeschichte, die hinführen will zur Krippe – und der es um die Begegnung geht.
Mich hat diese so einfache Geschichte schon damals mehr angesprochen als so hochtrabende theologische Aussagen wie „Menschwerdung“ oder andere spekulative Termini, die Insidern so wichtig sind, aber außerhalb unserer „Blase“ schon längst nicht mehr verständlich sind. Ich lade ein, sich von der Geschichte ansprechen und berühren zu lassen ...
Der Wolf an der Krippe
Es war einmal ein Wolf. Er lebte in der Gegend von Betlehem. Die Hirten wussten um seine Gefährlichkeit und waren allabendlich damit beschäftigt, ihre Schafe vor ihm in Sicherheit zu bringen. Stets hatte einer von ihnen Wache zu halten, denn der Wolf war hungrig und listig.
Es war in der Heiligen Nacht. Eben war der wundersame Gesang der Engel verstummt.
Ein Kind sollte geboren worden sein, ein Knabe. Der Wolf wunderte sich sehr, dass die rauen Hirten allesamt hingingen, um ein Kind anzusehen. „Wegen eines neugeborenen Kindes solch ein Getue“, dachte der Wolf. Neugierig geworden und hungrig wie er war, schlich er ihnen nach. Beim Stall angekommen, versteckte er sich und wartete.
Als sich die Hirten nach der Huldigung an das Jesuskind von Maria und Josef verabschiedeten, hielt der Wolf seine Zeit für gekommen. Er wartete noch, bis Maria und Josef eingeschlafen waren; die ausgestandene Sorge und Freude über das Kind hatten ihre Lider schwergemacht. „Umso besser“, dachte der Wolf, „ich werde mit dem Kind beginnen.“
Auf leisen Pfoten schlich er in den Stall. Niemand bemerkte sein Kommen. Allein das Kind. Es blickte voll Liebe auf den Wolf, der Tatze vor Tatze setzend sich lautlos an die Krippe heranschob. Er hatte den Rachen weit geöffnet und die Zunge hing ihm heraus. Er war schrecklich anzusehen. Nun stand er dicht neben der Krippe. „Ein leichtes Fressen“, dachte der Wolf und schleckte sich begierig die Lefzen. Er setzte zum Sprung an. Da berührte ihn behutsam und liebevoll die Hand des Jesuskindes. Das erste Mal in seinem Leben streichelte jemand sein hässliches, struppiges Fell und mit einer Stimme, wie der Wolf sie noch nie vernommen, sagte das Kind: „Wolf, ich liebe dich.“
Da geschah etwas Wunderbares – im dunklen Stall von Betlehem platzte die Tierhaut des Wolfes – und heraus stieg ein Mensch. Ein wirklicher Mensch. So, wie Gott ihn von Anfang an gedacht. Der Mensch sank in die Knie, küsste die Hände des Kindes und betete es an.
Alsdann verließ er den Stall – lautlos wie er zuvor als Wolf gekommen – und ging in die Welt, um die erlösende Berührung des göttlichen Kindes allen zu künden.
Niemand hat gesehen, was sich in jener Nacht zugetragen, nur das Jesuskind und der Mensch–Gewordene wissen, was geschehen ist. Und die beiden wissen, dass dies noch immer geschieht an allen, die sich in ihrer Tierhaut der Krippe nähern und sich vom göttlichen Kind berühren lassen.
Quellenangabe:
Nemetschek, Monika (2006): Schattenseiten des Lebens – und wo bleibt Gott? Innsbruck: Tyrolia. (Bestellmöglichkeit beim Verlag)
Mit freundlicher Genehmigung von Gottfried Kompatscher und der Verlagsanstalt Tyrolia Gesellschaft m. b. H.