Von Schildkröten lernen ...
Mit neunzehn Jahren ging mein größter Wunsch in Erfüllung, ich bekam ein Auto. Die Freude war groß, bis auf die Kleinigkeit, dass ich nicht einsteigen konnte. Sollte meine Mama immer mitfahren? Das wollte ich natürlich nicht und trainierte tagelang in der Garage. Ein paar Wochen später hatte ich mein Ziel erreicht und einen Trick entwickelt, mit dem ich mich eigenständig ins Auto ziehen konnte, und ich war sehr stolz auf mich. Autofahren bedeutete für mich Freiheit und Unabhängigkeit, die ich mir selbst erkämpft hatte. Es brauchte viel Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit, aber in meinem eigenen Auto zu sitzen und dies alleine geschafft zu haben, war die Anstrengung wert.
Nach der Matura wollte ich an der Universität Klagenfurt studieren. Klagenfurt ist siebzig Kilometer von meinem Kärntner Heimatort Spittal an der Drau entfernt. Anfangs fuhr ich diese Strecke jeden Tag mit meinem Auto, hin und zurück. Doch so sehr ich mein Auto und das Autofahren liebte, wollte ich lieber in Klagenfurt wohnen, um das Studentenleben mehr mitzubekommen und zu genießen. Aber konnte das funktionieren? Es ist mir fast peinlich, das preiszugeben, aber meine Mutter zog mich auch mit zwanzig Jahren noch jeden Tag in der Früh an und am Abend wieder aus. Würde ich mich überhaupt alleine an- und ausziehen können? Meine Eltern hatten Zweifel und wollten, dass ich weiter zuhause wohne. Ich selbst wusste es nicht, lebte aber in der Gewissheit, dass es schon irgendwie klappen würde. Um meine Eltern zu überzeugen, besorgte ich mir – ohne ihr Wissen – eine Studentenwohnung und stellte sie damit vor vollendete Tatsachen. So saß ich bald darauf auf meinem eigenen Bett in der Studentenwohnung und übte stundenlang das An- und Ausziehen.
Die erste Herausforderung war das T-Shirt. Ich benötigte beide Arme, um meinen Oberkörper abzustützen und im Gleichgewicht zu halten. Als ich das T-Shirt mit der linken Hand über den Kopf zog, verlor ich prompt das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Zum Glück hatte mich niemand dabei gesehen und ich sah, im T-Shirt steckend, auch nichts mehr. Ich probierte es noch einmal, diesmal beugte ich den Oberkörper weit nach vorne. Es klappte. Jetzt hatte ich die Arme frei und konnte das Shirt anziehen. Nach einem harten Kampf mit dem Stück Stoff hatte schließlich ich gesiegt, zumindest auf den ersten Blick – auf den zweiten Blick hatte ich es verkehrt rum an und alles begann von vorne.
Eine besondere Herausforderung war es, Unterhose, Strümpfe und Hose anzuziehen. Ich hatte ja keine Affenarme, wie sollte ich zu meinen Zehenspitzen kommen? Ich überlegte und hatte eine Idee: Ich kniete mich vor dem Bett auf den Boden, so war es ganz einfach, mit den Händen nach hinten zu greifen und die Hosen über die Füße zu streifen. Ich schaukelte hin und her, um die Hosen über die Knie hinaufzuziehen. Auch dabei übertrieb ich und kippte zur Seite. Das Schwierigste war dann aber, meine Beine in die Stützapparate, die ich zum Gehen benötigte, zu zwängen. Es dauerte und dauerte und mein Bein wollte nicht in den Stahlstützapparat. Nur nicht aufgeben, dachte ich, und am Ende siegte mein Verstand über die Ungeduld. In die Schuhe zu schlüpfen war dann nur noch ein Klacks. Ich winkelte die Beine an und schlüpfte hinein. Geschafft. Blick auf die Uhr: Nur vier Stunden! Ich war ganz glücklich und hatte ein großes Stück Selbständigkeit und Unabhängigkeit gewonnen.
Im Leben steht man immer wieder vor Mauern, die schier unüberwindbar scheinen. Man hat die idealisierte Vorstellung von einem besseren Leben hinter dieser Mauer. Manche bleiben erstarrt vor dem Hindernis stehen und entscheiden sich dafür, lieber beim Träumen zu bleiben, Andere bleiben sitzen, denn sie haben Angst, hinter der Mauer eine noch anstrengendere Welt vorzufinden. Oder es gibt die Mutigen, die zu klettern beginnen, auch wenn die Hürde bedrohlich und unüberwindbar wirkt.
Ich denke, ich gehöre zu Letzteren. Gelernt habe ich das von meinen Schildkröten, die wahre Ausbruchskünstler waren. So stabil unser Bretterzaun im Garten auch war, sie probierten es so lange, bis sie die Grenze überwunden hatten. Und wenn sie es nicht über das Brett schafften, dann gruben sie sich unten durch. Meine Schildkröte Kralli „lief“ mir sogar ein paar Mal unter den Augen davon. Sie krabbelte langsam durch die Wiese, so wie ich, und als ich kurz wegsah, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Stetigkeit, Beharrlichkeit und ein klares Ziel vor Augen – das ist die Zauberformel der Schildkröten.
„Ich habe ein Mut-Buch geschrieben!“, meinte Franz-Joseph Huainigg (*1966), der Autor dieses berührenden Textes bei seinem Besuch bei „Stöckl“ anlässlich der Veröffentlichung seines Buches „Mit Mut zum Glück. Das Leben wagen.“ im Jahr 2016. Besser könnte man das Buch, aus dem dieses „Schildkröten-Kapitel“ übrigens stammt, wohl kaum beschreiben! Huainigg gewährt seiner Leserschaft darin berührende Einblicke in sein reiches, erfülltes Leben und beweist eindrucksvoll, wie Geist, Inspiration und Gemüt einen Menschen ausmachen. Mut zum Glück bedeutet Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Und Herausforderungen hat(te) der gebürtige Kärntner zeitlebens zu meistern. Denn seit einer Impfung im ersten Lebensjahr sind seine Beine gelähmt. Heute ist er auf einen Elektrorollstuhl, ein Beatmungsgerät sowie persönliche Assistenz angewiesen. Doch für die „Schildkröte“ – nicht nur sein liebevoller Kosename von Ehefrau Judit, sondern auch sein Gebärdenname – ist dies kein Grund, sich in ihren Panzer zurückzuziehen – im Gegenteil. Denn mag die Hürde noch so unüberwindbar erscheinen – Franz-Joseph Huainigg überwindet sie, wie sein Lebenslauf eindrucksvoll beweist: Nach der Matura in Spittal an der Drau studierte er an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Germanistik und Medienkommunikation. Nach seiner Promotion im Jahr 1993 zum Thema Behinderung im österreichischen Fernsehen gründete er das Wiener KrüppelKabarett, 2002 bis 2017 saß er als Abgeordneter zum Nationalrat im Parlament, 2007 begründete er den österreichischen Literaturpreis „Ohrenschmaus“ für Menschen mit Behinderungen, 2013 rief er mit Partnern die Internetplattform www.rechtleicht.at zur Politik in leicht verständlicher Sprache ins Leben, 2018 initiierte er das „Consulting Board – Sonderpädagogik und schulische Inklusion“ als Beratungsgremium des Bildungsministers und seit 2019 ist er Mitarbeiter in der ORF-Abteilung „Humanitarian Broadcasting“. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Bücher, die in all den Jahren entstanden sind, viele davon übrigens für Kinder. Denn der zweifache Vater weiß, was Kinder gerne lesen. Trotz unbändigem Lebensmut und großem Humor, trotz beeindruckender Stärke und kämpferischem Geist erzählt Huainigg immer auch von all dem, was schmerzt, was lähmt, was herausfordert. Halt bieten ihm stets seine Frau Judit und die beiden Kinder – und natürlich die Schildkröte, deren Eigenschaften Sturheit, Willensstärke und Langsamkeit auch zu seinen Eigenschaften zählt. Neben Ideenreichtum, Engagement und Frohmut sind es wohl genau diese Charakterzüge, die seinen unermüdlichen Einsatz für Inklusion, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und die unantastbare Würde des menschlichen Lebens antreiben. Im Sinne seines persönlichen Rückblicks auf die letzten dreißen Jahre, den er auf seiner Webseite mit „Mein Gott, wie die Zeit verrollt …“ überschrieben hat, können wir ihm daher nur wünschen: „Keep on rolling!“
Quellenangabe:
Huainigg, Franz-Joseph (2016): Mit Mut zum Glück. Das Leben wagen. Wien: Carl Ueberreuter Verlag | Sachbuch. (Bestellmöglichkeit beim Verlag)
Mit freundlicher Genehmigung des Autors Franz-Joseph Huainigg und dem Carl Ueberreuter Verlag.
Begleittext: Stefanie Petelin