Lieber Genosse Stalin
Das Kriegsende war mit Händen zu greifen. Aber es war eben noch nicht da. Hitler saß noch immer in seinem Führerbunker und suchte Einfluss auf den Krieg zu nehmen, den er im September 1939 entfesselt hatte. Die deutschen Heeresgruppen kämpften noch immer in seinem Namen, und wenn jemand seinen Eid auf den Führer nicht mehr ernst nahm und nach Haus ging, wurde er im Namen des Führers gehängt. Doch in Wien lief man Renner-Schauen und konnte ein kleines Wunder erleben. Renner publizierte seine als „Denkschrift über die Geschichte der österreichischen Unabhängigkeitserklärung". In dem Traktätchen kommt das Wort Unabhängigkeitserklärung merkwürdigerweise nur im Titel vor.
Von Stalin installiert
Letztlich hatte Renner keine Ahnung, wie er tatsächlich dazu gekommen war, eine politische Rolle zu spielen. Er sollte auch nie erfahren, dass ihn Stalin hatte regelrecht suchen lassen.
Sicherlich hatte man sich auch in Moskau Gedanken darüber gemacht, wer am Tag X die Verwaltung in Österreich übernehmen könnte. Die österreichischen Kommunisten im Moskauer Exil hatten sich einen der Ihren gewünscht. Damit waren sie jedoch auf wenig Zustimmung gestoßen. Josef Stalin fragte bei einer der täglichen Lagebesprechungen Ende März recht unvermittelt, ob ein gewisser Karl Renner noch am Leben sei. Ob der Name Renners Stalin wirklich so plötzlich eingefallen war, kann bezweifelt werden. Aber dass Stalin auf die Meldung, man habe Renner gefunden und er würde durchaus bereit sein, an der Staatsgründung mitzuwirken, sofort reagierte, ist eine belegte Tatsache. Stalin befahl, Renner jeglichen Freiraum zu geben, um ein regierungsähnliches Organ aufzubauen.
Neustart im Sozialismus
Für Renner sollte ein Staat der Linken werden, eine Art Arbeiter- und Bauernstaat mit bürgerlicher Beteiligung. Allerdings würden jene, die Exponenten des Ständestaats gewesen waren, auf zehn Jahre von der Ausübung demokratischer Rechte ausgeschlossen sein. Die Hochschulen müssten eine zeitlang geschlossen bleiben, um Lehrende und Studierende einmal gründlich zu säubern. Die Polizei sollte so wie einstmals der Republikanische Schutzbund, also die paramilitärische Streitmacht der österreichischen Sozialdemokratie, organisiert werden. Kurzum: Die Zukunft des Landes sollte dem Sozialismus gehören. Das schrieb Renner am 15. April in einem längeren Brief dem „sehr geehrten Genossen Stalin", dem „ruhmbedeckten Oberbefehlshaber der Roten Armee".
Parteigründung vor Staatsgründung
Am 14. und 17. April hatten sich auch neue politische Parteien konstituiert und waren von den Sowjets akzeptiert worden. Damit ließ sich sagen, dass die Parteien vor dem Staat da waren. Wahrscheinlich wäre es anders gar nicht möglich gewesen, aber es war auf jeden Fall bezeichnend. Zu den Sozialisten und der Volkspartei gesellten sich die Kommunisten, denen die Entwicklung über den Kopf gewachsen war.
Vom ersten Augenblick an wurde um die Verteilung von Macht und Einfluss gerungen. Wieder waren es die Sowjets, die dann verfügten, dass die drei Parteien, die sich zur Bildung einer provisorischen Regierung anschickten, in ihr gleich stark vertreten sein sollten.
Die Provisorische Staatsregierung sollte mehr als 30 Personen umfassen und auf absoluter Parität und gegenseitiger Kontrolle basieren.
Unabhängigkeitserklärung mit Entschuldigung
Jetzt ging es Schlag auf Schlag, allerdings ohne Beteiligung der Öffentlichkeit. Die Parteien arbeiteten eine Unabhängigkeitserklärung und eine Regierungserklärung aus. Dabei wurden Texte herangezogen, die Renner noch Anfang April geschrieben, dann aber nicht verbreitet hatte.
Unterschrieben wurde das alles von den Parteiobmännern Schärf, Kunschak und Koplenig sowie von Renner. Renner hatte den Verweis auf die „Mitschuldklausel" der Moskauer Deklaration für entbehrlich erachtet. Doch Koplenig beharrte darauf. Also wurde sie „pflichtgemäß" erwähnt. Das so entstandene Gründungsdokument des neuen Österreich enthielt eine mehr als eigenwillige Geschichtsdarstellung und war mit einer Entschuldigung gekoppelt, dass Österreich wohl nicht mehr sehr viel zu seiner Befreiung vom Nationalsozialismus beitragen könnte. Die Absage an ein historisches Deutschland war jedoch unzweideutig.
Am 28. April waren die Texte in der erst wenige Tage zuvor gegründeten ersten österreichischen Tageszeitung „Neues Österreich" nachzulesen. Es wurden auch Plakate affichiert, auf denen sie publik gemacht wurden. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt dürfte man sie aber verschlampt haben, womit Österreich zu dem wohl einzigen Land auf der Welt wurde, das seine Unabhängigkeitserklärung weggeworfen hat.
Vergessenes Denkmal
Am 26. Oktober 1966 wurde „draußen vor der Stadt", im Schweizer Garten beim Südbahnhof, ein etwa 25 Meter hohes Denkmal errichtet, das an die Gründung der 2. Republik erinnern soll. Der Text der Unabhängigkeitserklärung wurde auf einer Steintafel verewigt. Mittlerweile sind die Buchstaben schon recht verwittert. Sandler schlafen auf den Bänken davor. Das Denkmal ist beschmiert. Aber es weiß ohnedies fast niemand, worum es sich handelt. Wie schrieb doch Robert Musil: „da nichts ist in dieser Welt, das so unsichtbar ist wie ein Denkmal". Wie wahr!
Manfried Rauchensteiner. Der Autor ist Historiker und lebt in Wien