Neue Chancen im Auf und Ab
Lernen zwei Menschen einander kennen, ist die intuitive Einschätzung des Selbstwertgefühls von zentraler Bedeutung. Fühle ich mich ihm oder ihr gewachsen? Bin ich unter- oder überfordert? Ist das, was ich anzubieten habe, gleichwertig mit dem, was er oder sie mir anzubieten hat? Hier sind Status, Vermögen oder beruflicher Erfolg wichtig, aber bedeutender sind noch die charakterlichen Eigenheiten, die Ausstrahlung, das Verhalten beim ersten Zusammentreffen, die Lebenseinstellung und Werthaltungen. Dabei sind nicht nur die Stärken anziehend, sondern auch die verborgenen Unsicherheiten, lassen sie doch das Gefühl entstehen, gebraucht zu werden. Die persönliche Entwicklung wird durch zwei etwa gleichstarke Personen am meisten herausgefordert.
Verliebt sein und Enttäuschung
Zum verliebt Sein gehört allerdings mehr. Es braucht den Kick der Erfüllung tiefster Sehnsüchte: Das ist die Person, auf die ich gewartet habe! Das verliebt Sein beflügelt, die Leute blühen auf, fühlen sich vitaler, sind strahlender, glücklicher. Die Schatten treten in den Hintergrund, wir zeigen uns von der besten Seite.
Aber Glück und Harmonie sind auf Dauer auch anstrengend. Vieles, was im verliebt Sein beflügelt hat, erweist sich als Illusion. Früher oder später kommt es zur Phase der Enttäuschung. Enttäuscht wird man vor allem von den Hoffnungen und Erwartungen über die Entwicklung der oder des Anderen. Das Positive daran ist, dass nun wieder eine Phase der Autonomie folgt. Man erkennt, dass Glück und Entwicklung nicht allein vom Partner oder der Partnerin zu erwarten sind.
Miteinander streiten
Dieser Reifungsprozess bringt etwas Abstand. Das ist auch gut so, die Verantwortung für das eigene Leben soll in eigenen Händen gehalten werden. Für die Reifung der Beziehung heißt das, in einen Prozess der Auseinandersetzung zu treten, bei der Wohlwollen und Unterstützung zwar weiterhin wichtig sind, aber ebenso Konfrontation und lustvolles miteinander Streiten.
Viele Menschen wollen oder können das nicht, sie tendieren dazu, ohne Streit auseinanderzugehen. Um Streit zu vermeiden, müssen immer mehr Lebensbereiche ausgeklammert werden. Die Folge ist eine Verödung und Verarmung der Beziehung, die Liebe verhungert im goldenen Käfig. Besonders Männer haben Mühe, dazu zu stehen, dass sie im Grunde nicht so wollen, wie die Frauen es von ihnen erwarten. Sie neigen dazu, Auseinandersetzungen auszuweichen und sich vor Angriffen zu schützen. Mit dieser schuldbewussten Ausweichtendenz können Frauen meist gar nicht umgehen.
Eine gemeinsame Welt schaffen
Mit der Zeit drängt die Liebesbeziehung dazu, sich eine gemeinsame innere Welt zu schaffen. Die persönlichen Ansichten und Wünsche werden mit dem Partner oder der Partnerin verändert und neu ausformuliert. Was ist uns wichtig und wertvoll im Leben? Die Gestaltung des Liebeslebens gehört hierher oder etwa wie Glaube gelebt, Weihnachten und Geburtstag gefeiert werden. Hierzu zählt die praktische Lebensführung, etwa die Aufteilung von Beruf und Haushalt oder der Umgang mit Geld. Es spart Kraft und Energie, wenn man sich in einer vertraut gewordenen Welt bewegen kann.
Auch eine äußere gemeinsame Welt wird miteinander geschaffen. Zur Behausung zählen auch das soziale Umfeld, die Beziehung zu Freundinnen und Freunden, Familie und Verwandten. Die erste Stelle nimmt der neue Partner oder die neue Partnerin ein. Manche Freundinnen und Freunde haben hier nun keinen Platz mehr, neue kommen dazu. Wenn die Liebe erlischt und die Berührungsflächen zwischen den beiden immer kleiner werden, verliert die innere Welt an Bedeutung. Das Paar wird aber immer noch durch die gemeinsame äußere Welt zusammengehalten.
In der zweiten Lebenshälfte
Für die Beziehung in der zweiten Lebenshälfte ist charakteristisch, dass die Lebensläufe nicht mehr so koordiniert werden müssen, nachdem die Kinder groß sind. Die Frau gerät durch die Wechseljahre in eine Orientierungskrise und zieht Bilanz über das bisherige Leben. Was habe ich bisher getan und erreicht? Durch die vorherige Einschränkung der Kindererziehung erfahren Frauen hier oft einen Energieschub und Freiheitsrausch. Manche beginnen eine Ausbildung oder entfalten sich beruflich oder politisch.
Männer haben ihren beruflichen Zenit dann bereits überschritten. Für diese besteht eher ein Nachholbedarf in Richtung Befreiung von Zwängen des beruflichen Engagements. Sie entwickeln eher Fantasien für einen Ausstieg, ein Alternativleben oder das Eingehen neuer Liebesbeziehungen. Die eheliche Balance kommt in Gefahr.
Sehr leicht passiert es dann, dass sich die gemeinsam geschaffene innere Welt verabschiedet. Das geht oft schleichend vor sich und passiert automatisch, wenn nicht darauf geachtet wird.
Begrenztheit und Unberechenbarkeit
Alles Lebendige ist in Entwicklung, es muss sich verändern, um zu überleben und um sich zu entfalten. In den Phasen einer Partnerschaft gilt es zu verstehen, dass die Liebesmöglichkeiten des Partners begrenzt sind, genauso wie die eigenen. Liebe erfordert die Fähigkeit zu akzeptieren, dass mein Gegenüber mir immer ein Geheimnis bleibt. Diese schmerzliche Erfahrung hat auch ihr Gutes. Es ist diese Unberechenbarkeit und das Sich-Fremdbleiben in Liebe und Sexualität, welche die Dynamik zwischen den Partnern aufrechterhält, einander immer wieder suchen zu müssen.
Wertschätzung und Kommunikation
Wie vertiefen und pflegen wir das, was uns als Paar in einzigartiger Weise miteinander verbindet?
Mit den Erfahrungen einer mehr als dreißigjährigen Ehe glaube ich, dass Wertschätzung und Respekt wesentlich sind. Es klingt zwar abgenutzt, aber das Gefühl, füreinander wichtig zu sein, zeigt sich an vielen kleinen Dingen: Etwa dass man einander zuhört und Wert legt auf die Meinung des Partners, auch durch bewusstes Wahrnehmen und ehrliches Nachfragen, wie es dem Anderen geht sowie durch kleine Gesten und Aufmerksamkeiten im Alltag.
Die Art des Umgangs spiegelt das Paar auch nach außen. Schon als Kind habe ich genau beobachtet, wie Paare sich verhalten oder in Abwesenheit eines Partners übereinander reden. Häufig habe ich mir gedacht, so möchte ich es einmal nicht haben. Das Paarleben ist eine Chance, das Leben einander leichter zu machen. Dafür muss man sich aktiv entscheiden.
Zeit mit- und füreinander
Auf jeden Fall gehört zur Vertiefung der Beziehung ein Mindestmaß an Zeit miteinander. Das heißt nicht, dass nicht jeder und jede eine eigenständige Person bleiben soll, mit eigenen Hobbys, Wünschen und Entscheidungen. Doch eines ist wichtiger denn je: Sorgen Sie dafür, dass Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin immer wieder ungestört reden können. Durch anteilnehmendes Zuhören und das Ansprechen auch von schwierigen Themen wird die Verbindung sicherer und stärker. Dann steigt auch die Bereitschaft, Leidenschaft und Freude zu leben.
Marianne Schindlecker
Die Autorin ist Integrative Supervisorin, Paarberaterin,
Diplom-Pädagogin und Erwachsenenbildnerin
www.mschindlecker.at