Vom Nutzen der Religion
y: Wie kann jemand, der nicht glaubt, Nutzen aus der Religion ziehen?
Benno Elbs: Wenn Viktor Frankl von der geistigen Dimension des Menschen spricht, dann auch davon, dass jeder Mensch im Innersten ein religiöses Wesen ist. Eine Grundaufgabe von Religionen ist es, das friedliche Miteinander der Menschen zu fördern. Religion umfasst alle Dimensionen: Kunst, Musik, das Staunen, das Getröstet werden in Leid, Schuld und Tod. Insofern ist Religion für das Zusammenleben wie auch für die persönliche Lebensgestaltung eine wichtige Kategorie. Feste und Rituale haben eine therapeutische, gesundheitsfördernde, das Leben stabilisierende Funktion. Man wird mitgetragen, auch dann, wenn man selber vielleicht Mühe hat mit einzelnen Inhalten.
y: Vom Nutzen des Glaubens spricht ein Wort des Propheten Jesaja: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich lehrt, was Nutzen bringt." (Jes 48,17) Traditionell denkt man an „Seelenheil" oder an die Vorsorge für das ewige Leben, wenn es um den Nutzen des Glaubens geht. Geht es für Gläubige nur um eine „höhere" spirituelle Dimension oder dürfen sie auch ganz weltlich von Kirche und Christentum profitieren?
Benno Elbs: Beides. Der einzelne Mensch und die Gesellschaft profitieren von Religion. Zugleich aber endet die Welt nicht am Horizont. Wichtige menschliche Kategorien wie die Erfahrung von Hoffnung überschreiten die Grenze des Todes. Religion weist über die reine weltlich-immanente Wirklichkeit hinaus.
Ich komme gerade von einer sterbenskranken Frau. Sie steht vor der Frage: Gibt es eine Hoffnung, die das menschliche Leben überdauert? Das ist das Humanum – das Hoffen-Können, das Vertrauen-Können, die Grunderfahrung, letztendlich in Gott geborgen zu sein. Darum hat Religion für beides, für Immanenz und Transzendenz, eine Bedeutung.
y: Wir haben jüngst im Sonntagsevangelium gehört, dass der Herrscher unterschiedslos alle von der Straße zum Hochzeitsfest einlädt (Mt 22). Sie müssen dazu kein religiöses Bekenntnis ablegen. Wie fromm muss man sein, um am „Hochzeitsmahl" teilzunehmen?
Benno Elbs: Mir imponiert der Satz von Papst Franziskus: „Kirche ist keine Zollstation. Sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben." Die Gastfreundschaft ist eine Grundkategorie der Kirche. Jeder Mensch ist ein Pilger und darf auf seinem Weg auch in der Kirche beim Hochzeitsmahl Platz nehmen. Jeder ist eingeladen, auch wenn er das vielleicht nur in einer bestimmen Phase des Lebens wahrnimmt.
y: Und dann gibt es in dieser Geschichte noch den Einen, der hinausgeworfen wird, weil er nicht festlich gekleidet ist. Eine Bedingung für dieses Fest gibt es also doch?
Benno Elbs: Zur Gastfreundschaft gehört auch, dass sich der Gast achtsam und respektvoll verhält. Der Mensch ist frei. Sein Verhalten hat jedoch immer eine ethische und moralische Dimension. Und es gibt Verhaltensweisen, die nicht dem entsprechen, was der Liebe und dem Guten dient. Dass der Mensch sich frei für das Gute, Wahre und Schöne entscheidet, ist eine Voraussetzung, wenn er am „Hochzeitsmahl" teilnehmen will.
y: Früher hat man behauptet, Religion sei das Opium für das Volk. Für Alain de Botton ist Religion eher eine kollektive Psychotherapie (so die Wiener Zeitung) für das menschliche Wohlbefinden. Was ist der Unterschied zwischen psychotherapeutischer Hilfe und Glauben als Lebenshilfe?
Benno Elbs: Psychotherapie hat die Aufgabe, Krankheiten der Psyche zu heilen. Glaube hat die Aufgabe, dem menschlichen Leben insgesamt, der Psyche und der Seele, eine sinnstiftende Dimension zu geben. Der Psychiater Kornelius Kryspin-Exner hat gesagt, der große Unterschied zwischen Psychotherapie und Glaube ist, dass die Psychotherapie versucht, bestimmte Krankheiten methodisch zu heilen. Die Religion versucht inhaltlich, den Menschen zu stärken: Die Frage nach Werten, was im Leben wertvoll ist, die Frage nach dem Sinn von Leben, die Frage nach dem Sinn von Welt. Religion gibt Antworten auf die Lebensfragen, gibt dem Leben Sinn und Inhalt. Die Psychotherapie bewegt sich eher im Bereich der Methode.
y: Welche Dimension kommt beim Glaubenden noch dazu?
Benno Elbs: Es ist die Dimension der Ewigkeit. In allen Religionen ist die Auferstehung, das Leben nach dem Tod eine Hoffnung, die dem Menschen immanent ist. Sie leuchtet dem Menschen in das Leben herein und hilft ihm, das Leben gut zu gestalten. Religion baut darauf, dass der Mensch eine Seele hat, die unsterblich ist. Dass das Ja Gottes, das er in der Schöpfung zum Menschen gesagt hat, zu keinem Zeitpunkt zurück genommen wird, weil Gott zu seinem Wort steht. Darum gehört zur menschlichen Existenz die Dimension der Ewigkeit und des Lebens bei Gott.
y: De Botton ist dafür kritisiert worden, dass es nicht so einfach funktionieren kann: Komm zu Weihnachten in die Kirche, setze dich einfach in die Messe, dann kannst du die Früchte der Religion genießen, auch wenn du nicht daran glaubst. Muss man in diesen Traditionen, im Glauben drinnen stehen und sie leben, um ihre Früchte in das eigene Leben zu integrieren?
Benno Elbs: Man kann über eine Messe von Mozart natürlich auch mit einem Gespür für Kunst staunen, dazu braucht es kein speziell religiös ausgebildetes Sensorium. Christlicher Glaube ist im Kern eine ganz persönliche Beziehung zu Jesus Christus, eine tiefe Freundschaft mit ihm. Das funktioniert nicht einfach auf Knopfdruck. Freundschaft wächst eher langsam, große Erleuchtungserfahrungen gibt es nur selten. Es ist ein Weg über Höhen und Tiefen, durch Licht und Dunkel. Und es hat auch mit der Gemeinschaft der Glaubenden zu tun, die diesen Weg mitgehen. Sicher ist: eine gesunde Tradition führt den Menschen in eine gute Zukunft, die gesegnet ist mit Sinn und Freude.
Das Interview führte Dr. Markus Himmelbauer, Geschäftsführer des
christlichen-jüdischen Dialoges in Wien