Humanität im Rechtsstaat
Was aber ist „der Rechtsstaat"?
Am Anfang steht die Forderung, dass Staatsorgane nur tun dürfen, was ein Gesetz erlaubt. Entscheidungen sollen nicht von der Willkür oder Tugend einzelner abhängig sein. Dieser formale Zugang wurde in den letzten 150 Jahren stetig weiterentwickelt. Rechtsstaat bedeutet heute, dass es neben der Durchsetzung des Rechts durch Behörden und Gerichte auch einen effektiven Rechtsschutz (Überprüfungsmöglichkeit) gegen deren Entscheidungen geben muss, der auf den Grundsätzen eines fairen Verfahrens aufbaut.
Den Entscheidungsspielraum nützen
Alle drei Aspekte sind wichtig, weil Gesetze – abgesehen von trivialen Fällen – immer interpretationsbedürftig sind. Sie lassen Freiräume zur Entscheidung, für die es einen rechtlichen (!) Maßstab braucht. Menschenrechte und Rechtsprinzipien bilden einen Maßstab für die Anwendung konkreten Rechts. Gerichte, Öffentlichkeit und Parlamente sollen Recht an diesem Maßstab kritisieren, prüfen und weiterentwickeln. Daher rügt auch der Verfassungsgerichtshof Asylrecht und -praxis in Österreich. Er weist auf eine undurchsichtige Rechtslage, fehlender Rechtsschutz und schlampige Verfahren hin.
Ein dynamischer Prozess
Vom Rechtsstaat kann nicht ohne Demokratie gesprochen werden. Gerade in Österreich und Deutschland wurde (und wird) der Rechtsstaat als etwas Statisches gesehen: eine feststehende Ordnung. Anders die Idee der „Rule of Law" in England und Amerika: Vor dem Hintergrund des Gerichtsverfahrens und anhand konkreter Unrechtserfahrungen wird Recht als stetiger und dynamischer Prozess verstanden. Recht ist kein Schicksal. Dieses Verständnis ist heute auch in Europa bei Gerichten und in der Fachwelt prägend. Aber in der öffentlichen und politischen Debatte fehlt es noch oft.
Ein solch dynamisches Verständnis ist der Bibel nicht fremd. Durch Mose, die Propheten und die Psalmen zieht sich die Rede von Recht, Güte, Liebe und Gerechtigkeit. Sie stehen in spannungsreichen Beziehungen zueinander und fordern einander heraus. Konstant aber ist die Forderung, „Recht zu tun" (z.B. Mi 6, 8). Denn das Zusammenleben soll nicht (allein) auf schwankender Liebe oder Gnade – gerade der Einflussreichen und Mächtigen – gebaut sein.
Christoph Konrath. Der Autor ist Jurist in der österreichischen Parlamentsdirektion.