
Der lange Schatten von CORONA
„Meine Covid-Infektion im Juli 2022 ist mild verlaufen“, erzählt Florian Gottlieb. „Ich hatte zwei Tage hohes Fieber sowie starke Kopf- und Gliederschmerzen, danach ging es mir schnell wieder gut. Nach zehn Tagen bin ich mit meiner Freundin zum Schwimmen und Stand-up-Paddeln gefahren. Auch da war noch alles in Ordnung. Erst tags darauf hatte ich das erste Mal einen Crash mit starker Benommenheit und hohem Puls. Es fühlte sich wie ein Wiederaufflammen sämtlicher Infekt-Symptome an.“ Das ist eine der Besonderheiten von Long COVID: Im Organismus sind die Viren längst nicht mehr nachweisbar, doch die Symptome dauern an. Über Wochen und Monate, manchmal sogar über Jahre. Nahezu jedes Organ kann betroffen sein – vom Gehirn über Herz und Lunge bis hin zu den Muskeln. In seinen vielen Varianten geht Long COVID mit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue-Syndrom) einher, einer chronischen Erkrankung, die je nach Ausprägung alltägliche Aktivitäten stark erschwert bis ganz verunmöglicht.
Das Rätsel hinter den 200 Symptomen
Long COVID, was ist das eigentlich? Nach aktuellem Wissensstand sind unter dem postviralen Zustandsbild 200 unterschiedliche Symptome beschrieben. Häufig variieren sie, manchmal verschwinden die Symptome auch und tauchen wieder auf. Fest steht: Long COVID ist kein einheitliches Krankheitsbild. „Es handelt sich um einen sehr breitgefächerten Begriff, der alles beinhaltet, was an gesundheitlichen Folgen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 übrigbleibt“, bestätigt Dr. Michael Stingl, Facharzt für Neurologie.
Oft werde alles in einen Topf geworfen, es mangle an einer klaren Differenzierung. „Wenn von Long COVID gesprochen wird, ist oft der spezifische ME/CFS-Subtyp als Folge der Infektion gemeint“, erklärt er. Das Krankheitsbild ist nicht neu und kann im Prinzip nach jeder schweren Virusinfektion auftreten. Betroffen sind vor allem junge Menschen unter 45 Jahren. Eines der Hauptsymptome von ME/CFS ist die Post Exertional Malaise (PEM), eine mit bis zu 48 Stunden verzögerte Zustandsverschlechterung nach geringer geistiger oder körperlicher Belastung.
Wichtig zu erwähnen ist, dass nicht jede Form von Erschöpfung krankhaft ist. Nach einer schweren Influenza ist eine längere Erholungsphase mit vorübergehend eingeschränkter Leistungsfähigkeit normal. Erst wenn eine Belastungsintoleranz über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten besteht, ist an ME/CSF zu denken.
Von 100 auf fast null
Florian Gottlieb arbeitete vor seiner COVID-Erkrankung als Pannenfahrer und Techniker beim ÖAMTC. „Ich habe wiederholt versucht, meinem Beruf nachzugehen, jedoch war die Arbeitszeit von vielen Beschwerden wie Schwindel und Kopfschmerzen überschattet. Wenn ich Sport machte, ging es mir am nächsten Tag richtig schlecht. Ab da wusste ich, dass etwas mit meinem Körper nicht stimmt.“
ME/CFS zählt zu den am stärksten belastenden chronischen Erkrankungen überhaupt. Die Lebensqualität Betroffener ist im Schnitt geringer als bei anderen stark einschränkenden Erkrankungen wie Multiple Sklerose, HIV oder Krebs. Fatigue ist ein Energiefresser, der selbst kleinste Tätigkeiten zum unüberwindbaren Kraftakt macht. Die zur Verfügung stehende Energie stellt Betroffene oft vor die Wahl: Wasche ich mir die Haare oder lege ich die Wäsche zusammen? Energie, beides zu verrichten, ist schlichtweg nicht vorhanden.
Dieser Umstand ist für das soziale Umfeld nicht immer nachvollziehbar. Nicht selten stoßen Erkrankte auf Unverständnis. Die körperlichen Leiden werden gerne psychologisiert, von ärztlicher Seite wird häufig eine psychische Erkrankung diagnostiziert. „Mein Arzt dachte zunächst auch an eine Depression“, erzählt Gottlieb. „Dann stellte er zum ersten Mal den Begriff Long COVID in den Raum.“
„ME/CFS ist keine Depression und kein Burnout, sondern eine schwere organische Erkrankung“, betont Dr. Stingl. Fehldiagnosen bergen die Gefahr, dass Betroffene in Aktivierungstherapien gedrängt werden, die sich nicht nur als wirkungslos erweisen, sondern auch kontraproduktiv sind. Stingl: „Wenn Menschen, die einen Schlaganfall hatten, eine Reha machen, wird es ihnen hinterher besser gehen. Bei ME/CSF kann Anstrengung in Kombination mit Reizüberflutung den Zustand der Erkrankten bis hin zur Bettlägerigkeit erheblich verschlechtern.“
Mehrere Ursachen wahrscheinlich
Warum aber ereilt diese schwere Erkrankung manche Infizierte und verschont andere? Und was genau passiert im Körper der Betroffenen? In den letzten 30 Jahren Forschung konnten zahlreiche pathophysiologische Auffälligkeiten bei ME/CFS ausfindig gemacht werden, die seit Beginn der Pandemie nun auch bei Long COVID gezeigt wurden. Dazu zählen insbesondere Störungen im Gefäßsystem. „Es gibt viele Hinweise darauf, dass die periphere Durchblutung und damit die systemische Sauerstoffversorgung beeinträchtigt ist“, bezieht sich der Neurologe auf Studien. Da alle Zellen und Gewebe Sauerstoff zur Energie-Gewinnung benötigen, wird klar, dass ein Mangel praktisch alle Körperfunktionen betreffen kann. Auch Autoimmunprozesse und eine damit zusammenhängende Störung des vegetativen Nervensystems werden als Ursache diskutiert. Sehr wahrscheinlich sind mehrere Mechanismen an der Krankheitsentstehung beteiligt.
Einteilung der Energiereserven
So verschieden die Symptome sind, so verschieden sind auch die Therapien: Im ersten Schritt gelte es, etwaig vorhandene Begleiterkrankungen zu behandeln – allen voran solche, die das Herz-Kreislauf-System betreffen: „Dadurch lässt sich die Leistungsgrenze der Patienten und Patientinnen häufig anheben, wodurch ihnen auch das Pacing leichter fällt“, ermutigt Stingl Betroffene zu einer medizinischen Abklärung. Pacing – eine Technik zur strategischen und vorausschauenden Planung von Erholung und Schonung – ist eine Schlüsselstrategie im Krankheitsmanagement. Wird eine Überanstrengung vermieden, kann die Anzahl und Schwere von massiven Erschöpfungszuständen, sogenannter „Crashs“, reduziert werden. „Außerdem stehen eine Reihe an Off-Label-Medikamenten (Anm.: Medikamente außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete) zur Verfügung, die unter kritischer Beurteilung von Wirkung und Verträglichkeit versucht werden können und manchmal zur Symptomlinderung beitragen“, so der Facharzt. Ganz deutlich muss Stingl zufolge festgehalten werden, dass sich die Symptomatik bessern kann.
Trotz allem nicht aufgeben, lautet auch die Botschaft von Florian Gottlieb. 2023 hat er eine Wiedereingliederung in der Arbeit versucht und merkte schnell, dass das nicht funktioniert. „Ich habe die Zeit nur runtergebogen und musste immer wieder in den Krankenstand gehen.“ Seit Anfang 2024 ist er arbeitslos. „Long COVID hat nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Partnerin verändert. Alles, was mir Spaß gemacht hat, kann ich nicht mehr tun. Ich kann nur versuchen, mein Leben an mein Energielevel anzupassen. Das ist das Einzige, was mir momentan hilft. Es ist hilfreich, sich an den kleinen Dingen im Leben zu erfreuen und einfach das Beste draus zu machen. Ich muss akzeptieren, dass nicht alles mehr so geht wie früher.“
Autorin: Sylvia Neubauer