Außer Kontrolle
Lieber fressen sie ihre Gefühle in sich hinein. Dann steigt der Druck im privaten Kessel und entlädt sich häufig in Gewaltausbrüchen. 8.206 Verurteilungen wegen strafbarer Handlungen gegen Leib und Leben verzeichnet die Statistik Austria für das Jahr 2023. 7.287 davon wurden gegen Männer ausgesprochen, das sind knapp 90 Prozent.
Martin Rachlinger, Leiter der Beratungsstelle Gewaltprävention von KMB-Männerbüro und Jugend am Werk in Salzburg, bestätigt diese Zahlen. Hier werden jährlich rund 700 Personen betreut, gegen die von der Polizei ein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wurde. Diese Personen müssen im Zuge der Gewaltprävention eine sechsstündige Beratung in Anspruch nehmen. Rund 90 Prozent seiner Klienten sind Männer. Ypsilon hat mit Martin zum Thema Gewalt gesprochen.
Ypsilon: Was sind die häufigsten Ursachen für männliche Gewalt?
Martin Rachlinger: Da gibt es mehrere, sehr komplex in sich greifende Ursachen. Zum einen ist es ein gewisses männliches Rollenverständnis, das von Stärke und Dominanz ausgeht. Oft ist dieses Rollenbild aufgrund von biografischen und kulturellen Hintergründen aus der Familiengeschichte heraus geprägt. Dazu kommen Situationen, mit denen Männer überfordert sind, meist in ihren Beziehungen. Wenn sie keinen Ausweg mehr sehen, schlagen sie zu, weil sie in ihrem Leben keine anderen Konfliktlösungsstrategien erlernt und erprobt haben. Das sind alles Hintergründe für gewalttätiges Handeln und keineswegs Entschuldigungsgründe, die Gewalt rechtfertigen.
Ypsilon: Welche Fälle landen konkret bei dir?
Martin Rachlinger: Am häufigsten schlägt bei uns die physische Gewalt auf, weil da auch schon die Polizei im Spiel ist. Sehr oft sind es Fälle, wo die Beziehung bereits beendet ist und der Partner die Trennung nicht akzeptieren will. Da kommt es dann zu Stalking, zu beharrlicher Verfolgung. Dann haben wir auch immer wieder Fälle, wo Männer in einer Beziehung keine Macht und Kontrolle mehr ausüben können. Oder Kränkungen, die die Männer nicht ordentlich verarbeiten können.
Betretungsverbote werden zum Großteil bei Paarbeziehungen ausgesprochen, es gibt aber Generationengewalt, wenn etwa ein Vater seiner erwachsenen Tochter sagen will, was sie zu tun hat, und dabei gewalttätig wird oder Gewalt androht.
Ypsilon: Ist Gewalt auch eine Frage des Milieus?
Martin Rachlinger: Gewalt zieht sich grundsätzlich quer durch alle sozialen Schichten. Bildungsfernere Schichten sind eher betroffen. Das hängt aber auch damit zusammen, dass hier schneller die Polizei gerufen wird. Meist sind es äußere Umstände wie Jobverlust, finanzielle Schwierigkeiten oder Probleme bei der Erziehung der Kinder, die Gewalt auslösen.
Ypsilon: Oft hört oder liest man, dass der Täter ein netter unauffälliger Mann von nebenan ist und dann rastet er plötzlich aus. Gibt es da gewisse Muster?
Martin Rachlinger: Ja, es gibt gewisse Tätertypologien, eine generelle Zuordnung ist jedoch nicht wirklich möglich. Wir haben es vor allem mit dem „Family-only-Typ“ zu tun, bei dem sich das Gewaltverhalten ausschließlich auf die Familie beschränkt. Der ist grundsätzlich kein gewalttätiger Mensch, lehnt Gewalt sogar ab, ist aber durch den Kontrollverlust innerhalb der Familie überfordert. Er ist meist sehr erfolgreich, oft überangepasst, hat aber erhebliche Probleme mit der eigenen Gefühlslage und agiert hauptsächlich affektiv. Mit dieser Personengruppe kann man gut arbeiten.
Ypsilon: Welche weiteren Tätertypen würdest du noch identifizieren?
Martin Rachlinger: Da sind die klassischen Psycho- und Soziopathen, die meist sehr schwer einzuschätzen sind. Sie können sich sehr gut verstellen und ihre Taten oft sehr lange verschleiern. Es sind Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung, die Gewalt sehr bewusst einsetzen. Und dann gibt es noch die milieubedingte Gewalt. Das sind Menschen, die von einem Umfeld kommen, in dem Gewalt und sozialer Missbrauch grundsätzlich üblich sind. Es sind generell gewalttätige Typen, die für ihr Verhalten von ihrer Umgebung auch Anerkennung erfahren.
Ypsilon: Gegen wen richtet sich die Gewalt vor allem?
Martin Rachlinger: Gewalt sehen wir vor allem von Männern gegen Frauen und auch gegen Kinder. Da spreche ich vom sozialen Nahraum, vom Privatbereich, mit dem wir uns beschäftigen. Gewalt im öffentlichen Raum, wie etwa Schlägereien oder Messerstechereien, sind nicht unser Thema.
Ypsilon: Was sind die ersten Anzeichen für Gewalt? Woran erkenne ich, dass mein Partner in diese Richtung geht?
Martin Rachlinger: Eifersucht ist ein erstes Indiz. Wenn der Partner kontrolliert, mit wem der andere Kontakt hat, wenn gleich Konflikte aufbrechen, wenn man zum Beispiel nach der Arbeit mit den Kollegen noch auf ein Bier geht, wenn er immer wissen will, wo der andere ist und vorschreiben will, mit wem sich der Partner überhaupt treffen darf. Gekränkte Männlichkeit spielt immer wieder eine Rolle. In unserer Gesellschaft haben wir immer noch das Bild, dass der Mann der Starke sein muss, er darf keine Gefühle zeigen. Die Ursachen für so ein Männerbild liegen in der Erziehung, aber auch im sozialen Umfeld, im Freundeskreis oder in Vereinen, wo dieses Männerbild immer wieder reproduziert wird. Wenn das von der Partnerin infrage gestellt wird, obwohl es in der Beziehung vielleicht schon eine Zeit lang so gelebt wurde und aus Sicht des Mannes auch funktioniert hat, dann endet das häufig in Gewaltausbrüchen.
Ypsilon: Wie komme ich da wieder raus?
Martin Rachlinger: Das ist harte Arbeit. Man muss sich mit seiner eigenen Geschichte, seinem eigenen Gewaltverhalten, mit seinem Konfliktverhalten, mit seinen Rollenbildern intensiv auseinandersetzen.
Ypsilon: Wie ist ein Beratungsgespräch bei euch aufgebaut?
Martin Rachlinger: Die Grundhaltung ist, dass wir die Tat, die passiert ist, ablehnen, dass wir aber trotzdem einen wertschätzenden, respektvollen Umgang mit dem Gefährder haben. Zuerst muss der Gefährder die Verantwortung für das, was er getan hat, übernehmen und die Gründe nicht woanders hinschieben. Die klassischen Täterstrategien wie bagatellisieren, Schuld von sich schieben, Opfer-Täter-Umkehr kommen immer wieder. Dann schauen wir uns an, wie es zu der konkreten Verhaltensweise gekommen ist, und suchen nach Möglichkeiten, dieses Verhalten zu verändern. In den vorgeschrieben sechs Stunden ist es allerdings unrealistisch, eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Da kann man maximal das Gefühl vermitteln, dass einmal jemand zugehört hat, und vielleicht neue Perspektiven öffnen. Im Idealfall docken die Gefährder länger bei uns an, dann können wir intensiver mit ihnen weiterarbeiten.
Ypsilon: Wenn ich an mir merke, dass ich aggressiv reagiere – was kann ich tun, damit es nicht zu Gewalt kommt?
Martin Rachlinger: Mach einen Punkt und geh aus der konkreten Situation raus. Wenn du merkst, du kommst beim Streit mit deiner Partnerin an die Grenzen, ist es am besten, das Gespräch zu beenden und vielleicht eine Runde spazieren zu gehen. Nie einen Konflikt so weit eskalieren lassen, dass man sich in eine ausweglose Situation manövriert. Wenn du merkst, dass solche Situationen häufiger werden, dass deine Aggressionswelle immer wieder sehr hoch wird, dann solltest du dir professionelle Hilfe suchen.
Ypsilon: Was kann ich bei zunehmender Eifersucht tun?
Martin Rachlinger: Wenn du das Vertrauen in deine Partnerin verlierst und sie mehr und mehr kontrollieren willst, dann solltest du das aktiv ansprechen: „Ich habe das Gefühl, du triffst dich lieber mit anderen, du verbringst zu wenig Zeit mit mir.“ Wichtig ist dabei, ein Gesprächssetting auf gleicher Ebene, wo in regelmäßigen Abständen die Dinge angesprochen werden, die in der Beziehung gut oder nicht gut laufen.
Ypsilon: Was verstehst du unter „Gesprächssetting auf gleicher Ebene“?
Martin Rachlinger: Miteinander reden, ohne sich Vorwürfe zu machen, sich nicht anschreien, sich gegenseitig zuhören, wiederholen, was man glaubt, vom Partner gehört zu haben, nach Lösungen suchen. Wenn ihr das alleine nicht schafft, könnt ihr euch an eine Beratungsstelle wenden.
Interview: Christian Brandstätter, Verlag Lebensart
Martin Rachlinger, maennerbuero-salzburg.at