
Verantwortung für die Demokratie
Dann Aufnahmen aus dem Erdbebengebiet in der Osttürkei: riesige Schutthaufen eingestürzter Häuser, windschiefe Ruinen mehrstöckiger Wohnbauten. Nur wenn man sich dazu zwingt, kann man diese Bilder länger und genauer betrachten, denn aus ihnen sprechen die tausenden Toten, die Schmerzen der Verwundeten, spricht die Trauer der Überlebenden um ihnen nahestehende Menschen, das brutale Ende eines bisherigen Alltags. Was haben diese Bilder mit Demokratie und der Frage nach der Verantwortung für sie und in ihr zu tun?
Im Fall der Ukraine ist es recht offensichtlich: Der Angriff Russlands entspringt nicht nur den Großmachtphantasien seines Präsidenten Wladimir Putin, er soll auch die Demokratisierung des „Brudervolkes“ zerstören. Denn die – bei allen Mängeln – erfolgreiche Demokratie in der Ukraine könnte so manchen Russen auf die Idee bringen, dass eine solche auch in seinem eigenen Land möglich sein könnte und sollte.
Auch in der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdogan die – wie in Russland – formal gegebene demokratische Grundstruktur zunehmend durch autokratische Maßnahmen und Allüren ausgehöhlt. Was solche Entwicklungen erfahrungsgemäß stets begleitet: Mit der Zunahme autoritären Regierens wächst die Korruption, werden Recht und Gesetz untergraben. Im Fall der Vorschriften für erdbebensicheres Bauen hieß dies: Die staatliche Kontrolle hat es nicht genau genommen oder ganz weggeschaut und einige wenige haben davon profitiert, mit tödlichen Folgen.
Nun ist auch in entwickelten und intakten Demokratien Korruption alles andere als unbekannt. Aber Medien, Opposition und Bürger können offen darüber reden, Verantwortung und Konsequenzen einfordern. Manche werden einwenden, dass es mühsam ist und sehr lange dauert, Korruptionssümpfe trockenzulegen. Als Österreicher muss man nicht einmal über die Grenze blicken, es genügt ein Blick ins eigene Land. Der Frust darüber erfasst nicht nur alteingesessene politische Skeptiker und Suderanten.
Mit Blick auf die Klimakrise sehen viele junge Menschen – siehe „Fridays for future“ und „Last Generation“ – auch in demokratischen Ländern Politik und Wähler durch Lobbyisten aller Art korrumpiert. Maßnahmen gegen den bedrohlichen Klimawandel werden zu zögerlich und halbherzig ergriffen bzw. eingefordert, so die ernste (An-)Klage der Jugend, die überzeugte Demokraten nicht kalt lassen sollte.
Während die Jugend ihre Zukunft gefährdet sieht und ihre Kritik aus hehren Motiven vorbringt, nutzen Populisten und Autokraten Krisen jedweder Art, um demokratische Ordnungen als ineffizient zu diskreditieren. Sei es eine Wirtschaftskrise, sei es eine politische Krise, sei es eine Pandemie oder sonst ein Unglück größeren Ausmaßes: Populisten und Autokraten versprechen rasche, effiziente Lösungen, ein Ende langer Debatten über die richtigen Maßnahmen. Sie behaupten, die Lösung zu kennen und lassen sich weder durch juristische noch sonstige Bedenken in ihrer „Mission“ für das Wohl des Volkes aufhalten – so zumindest ihre Eigendarstellung.
Noch vor wenigen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, als sei dieser Typus von Politiker, der es mit demokratischen Gepflogenheiten – und oft auch mit der Wahrheit – nicht so genau nimmt, unaufhaltsam auf dem Vormarsch, genannt seien hier Donald Trump und Jair Bolsonaro. Der Glanz dieser selbsternannten – und von Mehrheiten für zumindest eine Periode gewählten – Retter scheint inzwischen entweder zu verblassen, wie im Fall Trump und Bolsonaro, oder etwas im Schwinden, etwa bei Putin, Erdogan oder auch bei Ungarns Regierungschef Viktor Orban.
Demokratien oder Autokratien: Wer ist effizienter, erfolgreicher, wirksamer?
Politikwissenschaftler und Kommunikationsexperten wissen: Nur ein Loblied auf den hohen Wert der Demokratie zu singen, genügt nicht, es braucht Daten und systematische Vergleiche über längere Zeiträume. Studien des unabhängigen Forschungsinstitutes „V-Dem“ der Universität Göteborg aus 2021/22 belegen: Demokratie funktioniert besser als Autokratie. Das beginnt bei der Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen und Gütern und besserer Bildung, setzt sich fort in stärkerem Wirtschaftswachstum, besserer sozialer Absicherung, weniger Korruption, Gleichstellung der Geschlechter und sozialem Zusammenhalt bis hin zu Gesundheit, Sicherheit, Frieden und Maßnahmen gegen den Klimawandel.
Beobachtet wurde dabei die längerfristige Änderung der Parameter in Ländern, die von autokratischen zu demokratischen Regierungsformen wechseln. Dabei zeigt sich, dass auf einzelnen Gebieten vorübergehend auch Verschlechterungen eintreten können. Was sich in welchem Ausmaß verbessert, hängt auch von geografischer Lage, natürlichen Ressourcen, Traditionen, Verhältnis zu Nachbarländern und anderem ab. Auch können Autokratien auf einzelnen Feldern kurzfristig erfolgreicher sein. Mittel- und langfristig sprechen die Zahlen aber eindeutig für die Demokratie.
Ein Land wird derzeit gerne als Gegenbeispiel zur Rede vom „Demokratie-Vorteil“ ins Treffen geführt: die Volksrepublik China. Deren Führung hat es geschafft, durch rasche Übernahme und innovative Weiterentwicklung zeitgenössischer Technologie wirtschaftlich mitzuhalten und erfolgreich zu sein. Drei Voraus-setzungen dafür sind in China gegeben: eine „hohe Staatskapazität“, das heißt ein leistungsfähiges Verwaltungssystem, politische Stabilität durch starke Repression und militärische Stärke und eine Kultur, in deren Tradition Pflicht und Akzeptanz von Autorität höher stehen als Selbstentfaltungswerte. Ob und wie lange das Modell erfolgreich ist, wird sich erst zeigen.
Wie demokratisch ist Österreich?
Ein viel beachteter Messwert ist der Demokratie-Index der britischen Zeitschrift „The Economist“. Er vergibt für die einzelnen Länder Punkte in fünf Kategorien: Wahlverfahren und Pluralismus, Arbeitsweise der Regierung, politische Teilhabe, politische Kultur und Bürgerrechte. Je nach erreichter Punktezahl werden die Staaten in vier Kategorien eingeteilt: vollständige oder unvollständige Demokratie, Mischform aus Demokratie und Autokratie, autoritäres Regime. Norwegen führt diese Liste aktuell vor Neuseeland an, Österreich liegt auf Rang 20 von insgesamt 24 Ländern, die als „vollständige Demokratien“ eingestuft werden.
Wer meint, damit könne man sich als Österreicher entspannt zurücklehnen, irrt gewaltig. Der Demokratie-Monitor des SORA-Instituts, erhoben und präsentiert im Herbst 2022, zeigt: Nur mehr 34 Prozent der Menschen über 16 Jahre sind der Meinung, dass das politische System in Österreich derzeit sehr gut bzw. ziemlich gut funktioniert; 2018 waren es noch 64 Prozent. Für den Rest funktioniert es weniger oder gar nicht gut.
Im Gegensatz dazu ist das Vertrauen in Justiz, Polizei und Behörden über die fünf Erhebungsjahre hinweg konstant geblieben. Der Vertrauensverlust trifft also in erster Linie die demokratisch gewählten Vertretungsorgane – das politische System ist mit einer Krise der Repräsentation konfrontiert. Diese umfasst auch die Parteien: 2018 fanden 13 Prozent der Menschen keine Partei, die ihre politischen Anliegen vertritt, inzwischen sind es 38 Prozent.
Unzureichende Antworten auf die dringlichsten Fragen
Gerade bei den für die Menschen besonders wichtigen Themen gelingt es den politischen Akteuren nicht, sie in einer Art und Weise aufzugreifen, die zuversichtlich stimmt, so der SORA-Bericht. Als ihr derzeit dringendstes politisches Anliegen nennen die meisten Menschen die Teuerung (42 Prozent), gefolgt von ökonomischer Ungleichheit (20 Prozent), Klimawandel (15 Prozent), Krieg in der Ukraine (14 Prozent) sowie Zuwanderung und Integration (13 Prozent). Ein weiteres Ergebnis: Für 59 Prozent „stecken Politik und Medien unter einer Decke“.
Bemerkenswert auch der Vergleich entlang der wirtschaftlichen Lage der Befragten: Im unteren ökonomischen Drittel ist das Vertrauen in die Politik von Beginn an gering und hat sich kaum verändert. Massiv eingebrochen ist das Vertrauen in das Funktionieren des politischen Systems im mittleren und oberen Einkommensdrittel, und zwar um rund die Hälfte. Für das untere Drittel hält die Demokratie ihre zentralen Versprechen im Blick auf Gleichheit und Mitbestimmung nicht: Die Mehrzahl dieser Menschen erlebt kontinuierlich, von der Politik als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden (73 Prozent), im Parlament nicht vertreten zu sein (68 Prozent) und mit politischer Beteiligung keinen Unterschied machen zu können (60 Prozent).
„Die Mitte stellt sich die Frage, ob das politische System noch ein Gemeingut oder eher ein Selbstbedienungsladen ist“, so der SORA-Befund. Es herrsche der zunehmende Eindruck, dass privilegierte Gruppen das politische System für ihre Eigeninteressen nutzen, dass „sich die gut Situierten untereinander ausmachen, was im Land passieren soll“ (78 Prozent). Das obere Drittel hadert mit Einschränkung der Freiheit, mit staatlichen Eingriffen in die individuelle Lebensführung, etwa in der Pandemie oder auch beim Klimaschutz.
Verliert die Demokratie selbst an Legitimität?
Die klassische Frage nach dem „starken Führer“ wird laut SORA-Analyse erstmals nicht mehr mehrheitlich abgelehnt – derzeit stimmen 46 Prozent gar nicht zu, vor einem Jahr waren es noch 56 Prozent. Konstant ist mit rund 5 Prozent der Anteil jener, die sich eindeutig für eine Diktatur aussprechen (Autokraten). Am anderen Ende des Spektrums stellen die Demokraten mit 57 Prozent nach wie vor die Mehrheit, auch wenn ihr Anteil leicht gesunken ist.
Die gute Botschaft aus der Erhebung: Insgesamt hat die Demokratie nicht an Zustimmung verloren. Über die fünf Erhebungsjahre hinweg denken jeweils knapp neun von zehn Menschen, dass sie – trotz mancher Probleme – die beste Staatsform ist. Wirklich beruhigen sollte einen eine solche Antwort angesichts der Detailergebnisse nicht und es stellt sich für jeden, dem Demokratie ein Herzensanliegen ist, die Frage: Worauf muss ich achten?
Was unternehmen Autokraten als erstes, um ihre Macht abzusichern? Sie ändern die Wahlregeln zu ihren Gunsten, um eine Abwahl zu verhindern, und sie trachten danach, die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion aufzuweichen oder aufzuheben, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Um Demokratie zu sichern bzw. zu verteidigen, lautet die erste Pflicht also: Zivilcourage gegen alle Versuche, diese Grundprinzipien eines demokratischen Systems inklusive der fundamentalen Rechte und Freiheiten einzuschränken.
Demokratie muss ständig weiterentwickelt und erneuert werden
Demokratie heißt „Volksherrschaft“ und meint „eine Regierung des Volks, durch das Volk und für das Volk“ (Abraham Lincoln). Damit sind drei Grundfragen verbunden:
1. „des Volkes“: Wer ist das Volk? Dürfen nur Staatsbürger wählen, ab welchem Alter, oder auch dauerhafte Einwohner mit anderer Staatsbürgerschaft? Wie werden Interessen jener berücksichtigt, die (noch) nicht wählen können?
2. „durch das Volk“: Wer kann gewählt werden (passives Wahlrecht)? Wie wird sichergestellt, dass alle Teile der Gesellschaft entsprechend in den gewählten Gremien repräsentiert sind? Ist Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht angebrachter?
3. „für das Volk“: Das Volk hat viele berechtigte Anliegen und Interessen und nicht wenige stehen in Konkurrenz und manchmal auch im Widerspruch zueinander. Wie sie gewichten, wie den Ausgleich schaffen, wie kurzfristige und langfristige Ziele unter einen Hut bekommen?
Der Fragenkatalog könnte noch lange fortgesetzt werden. Er zeigt eines: Demokratie heißt, Regeln und Entscheidungen ständig neu zu verhandeln, zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Seit die Griechen die Demokratie „erfunden“ haben, gibt es Kritik an ihr – von der „Unfähigkeit des Wahlvolkes“ über die „falsche“ Auswahl an Repräsentanten bis zur Eigennutzorientierung der Amtsträger samt der damit verbundenen Korruption.
Verantwortung heißt Teilnahme
Verantwortung für die Demokratie und in der Demokratie lässt sich kurz in einem Wort zusammenfassen: Teilnahme. Nicht nur an Wahlen, sondern auch am Geschehen und am Diskurs dazwischen; Teilnahme auch durch Übernahme von Funktionen, Ämtern, Aufgaben. Diese Teilnahme zu fördern, muss eine wesentliche Aufgabe von Erziehung, Schule und Bildung sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereine mit ihren ehrenamtlichen Strukturen sind ein wesentliches Feld demokratischer Einübung und Praxis. Demokratie, Diskurs, Konsens, Kompromiss, gemeinsam erarbeitete Lösungen können so gelernt und erfahren werden. Gerade junge Menschen gilt es dafür zu gewinnen, zu motivieren – und auch ranzulassen.
Eine Frage, die im Blick auf Verantwortung für die Demokratie immer wieder gestellt wird: Sind zu einer demokratischen Wahl Kandidaten bzw. Parteien zuzulassen, die für eine Abschaffung der Demokratie eintreten? Verfassungstheoretiker sind sich in der Frage uneins, mehrheitlich sehen sie jedoch, dass es zum Schutz der Demokratie und ihrer Werte legitim ist, in diesem Fall die demokratischen Freiheiten einzuschränken.
REGIMES OF THE WORLD
Eine Möglichkeit, Regierungsformen weltweit zu kategorisieren, ist das Schema „Regimes of the World (RoW)“. Es teilt Regierungen auf der ganzen Welt in vier Kategorien ein, in zwei Formen der Autokratie und zwei Formen der Demokratie.
In „geschlossenen Autokratien“ übt ein Einzelner oder eine Gruppe unkontrolliert Macht aus, eine Diktatur also.
Eine „elektorale Autokratie“ weist teilweise demokratische Elemente auf, etwa Wahlen, diese sind aber in der Realität weder frei noch fair.
In „elektoralen Demokratien“ sind Wahlen zwar frei und fair, aber die Gewaltenteilung ist beispielsweise nicht vollständig, sodass etwa das Staatsoberhaupt nur einer schwachen oder gar keiner Kontrolle durch die Judikative oder das Parlament unterliegt.
In der „liberalen Demokratie“ sind die demokratischen Grundideale und Institutionen am effektivsten realisiert, und zwar in Form eines starken Rechtsstaats mit Gewaltenteilung und deutlich ausgeprägten Bürgerrechten, die auch Minderheiten wirkungsvoll zu schützen vermögen.
Autor: Mag. Josef Pumberger, Generalsekretär der KMBÖ