Mein Leben - Meine Verantwortung
Stimmt’s oder stimmt’s nicht: Männer gehen tendenziell bereitwillig zu Vorsorgeuntersuchungen und kümmern sich vorausschauend um ihre Gesundheit. Wer jetzt allzu schnell auf „Stimmt nicht“ tippt, geht einem weit verbreiteten Klischee auf den Leim. Denn: „Es ist so nicht wahr, dass Männer Vorsorgeuntersuchungen vernachlässigen, zumindest nicht die älteren“, sagt Romeo Bissuti, Psychotherapeut und Leiter des Männergesundheitszentrums MEN in Wien. „Ab 50 nehmen sie die Untersuchungen sogar eher ernst als Frauen, wahrscheinlich weil sie ein schlechtes Gewissen haben, sie viele Jahre nicht gemacht zu haben.“
Männer hätten eben einen eigenen Zugang zum Thema Gesundheit. Viele würden sich gesünder fühlen, als sie sind, und keinen Grund sehen, ungesunde Lebensweisen wie zu fette Ernährung oder zu viel Alkohol zu ändern, solange es ihnen gut geht. Dabei sei es genau dieser ungesunde Lebensstil gepaart mit ausgeprägterem Risikoverhalten, der ihnen statistisch gesehen eine um fünf bis sechs Jahre kürzere Lebenserwartung als Frauen einbrockt.
Auf die inneren Hinweisgeber hören
Gesundheit ist – neben Partnerschaft, Freundschaften, Arbeit, Spiritualität – einer der Lebensbereiche, in denen es ein gewisses Maß an Selbstverantwortung braucht, weil sie sonst schnell in eine Schieflage geraten. „Verantwortung für sich zu übernehmen, kann in den verschiedenen Lebensbereichen die unterschiedlichsten Gesichter haben“, sagt der Coach Gregor Butz. Sport treiben, sich gesund ernähren, mit der Partnerin oder Freunden über Sorgen zu sprechen oder sich von einem Experten beraten zu lassen: „Wer auf seine eigene Bedürfnislage achtet, sich seinen Sorgen oder seiner Angst stellt, handelt selbstverantwortlich.“
Butz spricht von „inneren Hinweisgebern“, die man als Anlass nimmt, etwas zu verändern und ins Tun zu kommen – oder eben nicht: „Ich kann diese Hinweisgeber wegdrängen, sie ignorieren oder Ausweichhandlungen setzen und unter Umständen zu Suchtmitteln greifen. Oder ich ‚antworte‘ ihnen, indem ich mich mit ihnen auseinandersetze.“
Blick von außen
„Das Verb ‚verantworten‘ geht auf das lateinische ‚respondere‘ zurück, was in der römischen Rechtssprache meint, einer gerichtlichen Instanz zu antworten“, sagt Gregor Butz. Im Fall der Selbstverantwortung sei man selbst diese Instanz, die antwortet. „Oder wie der Gründer der Logotherapie Viktor Frankl es formulierte: ‚Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten!‘“
Sich mit seinen Themen und dem eigenen Befinden auseinanderzusetzen, setze ein gewisses Maß an Reflexionskompetenz voraus. „Dazu braucht es die Fähigkeit, sich sich selbst zuzuwenden und andere Blickwinkel einzunehmen.“ Wer einen distanzierteren Blick auf die Themen werfen kann, die ihn unmittelbar beschäftigen und seine eigenen Gefühle, seine Bedarfslage miteinbezieht, finde fruchtbare Wege damit umzugehen. Distanz und eine neue Perspektive können etwa das Gespräch mit Freunden bringen, die einen Blick von außen ermöglichen. Genauso wie Beratungsstellen, ein Coaching oder eine Therapie: „Wer sich eingesteht, dass er mit einer Situation alleine nicht mehr weiterkommt und Hilfe annehmen sollte, übernimmt damit Verantwortung für sich selbst.“
Internalisiertes Männlichkeitsbild als Hindernis
Oft hindere das verinnerlichte Bild von Männlichkeit Männer daran, Gefühle, Ängste, Träume und Sorgen zuzulassen. „Fällt es manchen Männern schwer, zum Arzt zu gehen, kann das an der Angst liegen, mit dem eigenen Schwachsein, mit Krankheit konfrontiert zu werden. Das passt nicht zum Bild des starken, unverwüstlichen Mannes mit dem Glas Whiskey in der Hand“, sagt Gregor Butz. Psychotherapeut Romeo Bissuti sieht das ähnlich: Dass manche Männer ungesunde Lebensweisen mit Stolz vor sich hertragen, habe viel mit ihren internalisierten Männlichkeitsbildern zu tun, bestätigt Romeo Bisutti.
Fleisch essen, Alkohol trinken oder rauchen werde von ihnen mit Maskulinität assoziiert und bestätige ihren Selbstwert. „Man muss dazu sagen, dass solche Männlichkeitsbilder mit dem Bildungsgrad und der sozialen Schicht korrelieren“, sagt Bissuti. Je gebildeter, desto eher werden derartige Männlichkeitsstereotype aufgebrochen. Je jünger, auch. Das zeigt beispielsweise der deutsche Männergesundheitsbericht, der unter jüngeren Männern ein differenziertes Männlichkeitsbild feststellt.
Aufholbedarf bei psychischer Gesundheit
Noch mehr Aufholbedarf gebe es bei der psychischen Gesundheit. Nicht nur, aber auch bei Männern, die sich vielfach ohnehin schwertun, Zugang zu ihrer emotionalen Befindlichkeit zu finden. „Männer“, so Bissuit, „können sich selbst oft schwer auslesen, das heißt, ihre Gefühle wahrnehmen und deuten. Manche versuchen, einzelne Gefühle komplett abzustellen, was insgesamt zur Gefühlsverflachung führt.“ Sich mit anderen über Gefühle auszutauschen, hätten viele Männer nicht gelernt. Zwar würden sich viele der Partnerin gegenüber öffnen. Zerbricht die Beziehung oder stirbt die Partnerin, gebe es niemanden sonst, dem sie ihr Herz ausschütten können.
Damit Männer Verantwortung sich selbst und ihrer (psychischen) Gesundheit gegenüber wahrnehmen können, brauche es geeignete Räume, in denen ihnen das ermöglicht wird, sagt Romeo Bissuti. „Männer sind durchaus offen für Gesundheitsförderung – wenn man ihnen zuhört und ihnen einen Ort bietet, wo sie sich willkommen fühlen.“
Work-Life-Dance
Und wie sieht es mit dem Bereich „Arbeit“ aus, der im Leben vieler Männer großen Raum einnimmt? Die viel zitierte Work- Life-Balance hält Coach Gregor Butz nicht unbedingt für erstrebenswert. „Davon wird zwar sehr oft gesprochen. Nur: Alles ständig in Balance zu halten, ist furchtbar anstrengend. Denken wir nur an einen Seiltänzer im Zirkus.“ Männer, die sich allzu sehr auf ein gut ausbalanciertes Leben fokussieren und in jedem Lebensbereich das Optimum geben wollen, würden Gefahr laufen, in die Perfektionismusfalle zu tappen. Sogar Selbstfürsorge könne man übertreiben: „Ich hatte einmal einen Klienten, der mit einer Uhr ständig seinen Puls unter Kontrolle hatte. Das kann auch Suchtpotenzial haben.“
Statt „Work-Life-Balance“ plädiert Butz für den Begriff „Work-Life-Dance“, der sich auf das Konzept der „dynamischen Balance“ der deutschen Psychoanalytikerin Ruth Cohn bezieht. Dabei werde zwar auch eine Art Balance angestrebt, allerdings eine dynamische. Wie bei einem Tanz vom eigenen Selbst zu den anderen hin und wieder zurück, vom Ich zum Wir. „Man beschäftigt sich mit sich selbst, dann bewegt man sich auf die anderen zu, bis man merkt, dass es Zeit ist, sich wieder zu sich zurückzuziehen.“
Sich „Kurvenkompetenz“ aneignen
Um zu wissen, wann man mehr Gemeinschaft und wann mehr Rückzug braucht, benötige man „Kurvenkompetenz“, sagt Butz und erläutert diese mit einem Beispiel aus seinem eigenen Leben: „Ich arbeite viel mit Menschen und merke an meinen Nackenverspannungen, wann es mir zu viel ist. Die Verspannungen weisen mich darauf hin, dass ich wieder Zeit für mich brauche, zu einer ‚Gegenbewegung‘ ansetzen sollte, um nicht aus der Kurve zu driften. Sie sind eine positive Störung.“ Männer, deren Männerbild solche „Störungen“ nicht zulässt, würden sich möglicherweise schwertun, sie überhaupt wahrzunehmen und dann zu akzeptieren. Solche Männer arbeiten vielleicht weiter, obwohl ihnen die Kraft ausgeht. Sie sporteln, auch wenn sie nicht gesund sind. Hilfe suchen sie sich erst, wenn der Leidensdruck zu groß ist. Auch ein wichtiger Aspekt von Selbstverantwortung: „In unserer Multioptionsgesellschaft kann man nicht in jedem Bereich hundert Prozent geben. Es wäre hilfreich, seine Wichtigkeiten klar zu haben.“ Eine Frage, die helfe, im Work-Life-Dance die richtigen Prioritäten zu setzen, ist: Wie will ich auf diese Zeit einmal zurückschauen?“
Gut zu sich sein
Ähnlich hat es der heilige Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, bereits im 16. Jahrhundert formuliert. Ignatius empfiehlt, sich die eigene Todesstunde vor Augen zu halten, um das Leben im Hier und Jetzt zu ordnen und gute Entscheidungen zu treffen. Von Ignatius könne man in Sachen Selbstverantwortung überhaupt einiges lernen, sagt der Jesuit Anton Aigner. „Ignatius hat schon ganz am Anfang in seinem Orden einen so genannten ‚Villatag‘ eingeführt. Jedes Ordenshaus hatte damals einen Landsitz, eine ‚Villa‘, wo man sich erholen konnte.“ Ein Tag in der Woche sei für die Zeit in der Villa reserviert worden und auch heute sei wichtig, dass sich Jesuiten einen freien Tag gönnen.
Das gilt natürlich auch für Nicht-Priester, wie Aigner betont. Denn Verantwortung für sich zu übernehmen, bedeute unter anderem, gut zu sich zu sein. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Menschen aufgrund ihrer Leistung bewerten, die Kunst des Genießens, des Nichtstun muss da erst wieder etabliert werden.“ Jeder müsse selbst herauszufinden, wie er am ehesten entspannen kann. Aigner geht jeden Tag eine halbe Stunde spazieren. „Musik, ein Buch lesen, miteinander Karten spielen: Die Zeit der Muße soll etwas beinhalten, was entspannt.“
Entspannter Tagesrückblick
Für die eigenen Schwächen und Fehler Verantwortung zu übernehmen, sei schwierig, gelinge unter Umständen aber leichter, wenn man einen Blick ins Neue Testament wirft, sagt Aigner. „Jesus hat die Sünder gegenüber den Gerechten bevorzugt.“ Als unverzichtbares Werkzeug, um das eigene Leben gut im Blick zu haben, empfahl Ignatius von Loyola seinen Mitbrüdern, jeden Abend auf den Tag zurückzuschauen. „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ wird diese Zeit in der ignatianischen Spiritualität genannt. „So ein Tagesrückblick kann ganz locker und entspannt aussehen. Versuchen, mit Gott ins Gespräch zu kommen, und vor allem danken. So schläft man ein mit dem, was einen froh gemacht hat.“
Autorin: Sandra Lobnig