Menschliches, Allzumenschliches
Schon seit einigen Jahren wählen wir in der KMB Linz biblische Männergestalten aus, die uns durchs Arbeitsjahr begleiten, abwechselnd aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Für das Arbeitsjahr 2021/22 haben wir uns für den Jakob des Alten Testaments entschieden, den Sohn des Isaak und der Rebekka, den Stammvater der zwölf Stämme Israels.
Die Geschichte Jakobs erstreckt sich im Buch Genesis über die Kapitel 25 bis 50. Es ist die Geschichte eines großen Familiensystems voller Irrungen und Wirrungen.
Nichts von unseren menschlichen Untiefen bleibt darin ausgespart: Lüge, Betrug, Eifersucht, Neid, Rache und Gewalt. Es ist aber auch eine Geschichte von Reue, Einsicht, Wiedergutmachung, Vergebung und Versöhnung.
Die ganze Bandbreite unserer menschlichen Gefühle und Erfahrungen ist in dieser Jakobsgeschichte abgebildet. Dazu kommt dann aberauch noch das unergründliche, wundersame und segensreiche Wirken Gottes in dieser ach so menschlichen Geschichte. Jakob, das Schlitzohr, der betrogene Betrüger, ein Mann voller innerer und äußer Konflikte, ist zugleich der von Gott Gesegnete und Auserwählte, der maßgeblich mitwirkt am Heilsplan Gottes für sein Volk.
Gerade in der Menschlichkeit dieser biblischen Gestalt können wir Männer viele Impulse und Anknüpfungspunkte finden und ergründen, wie wir die Geschichte Jakobs in eine Verbindung mit unserem eigenen Leben bringen können. Viele Themen von Männlichkeit sind hier angesprochen und berührt. Da ist zuerst einmal das Thema Vaterschaft: die Beziehung zum eigenen Vater, die Sehnsucht vom Vater den Segen zu bekommen, selber dann Väterlichkeit zu leben und den Segen an die eigenen Söhne weiterzugeben (Gen 25, Gen 50).
Ein weiteres großes Thema ist die Auseinandersetzung mit den eigenen dunklen Seiten und Anteilen, mit den eigenen „schwierigen“ Gefühlen, mit seinem Schatten. Sich diesen Themen zu stellen, kann hart und fordernd sein, aber es kann uns auch in eine intensive Verbindung mit dem Göttlichen bringen. Es ist wie ein innerer Kampf, bei dem sich die lebensförderlichen und segensreichen Kräfte durchsetzen, ein Prozess aber auch, der seine – auch körperlichen – Spuren hinterlassen kann (Gen 32). Es geht um einen männlichen Reifungs-und Entwicklungsweg mit dem Ziel, den Segen Gottes im eigenen Leben und im Leben derer wirksam und spürbar werden zu lassen, die uns anvertraut sind.
Weitere Themen sind: der Umgang mit Scham und Schuld, die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, das Thema der Rivalität und Durchsetzung
der eigenen Interessen (auf Kosten anderer), sich mit der List Vorteile zu verschaffen. Auch auf gesellschaftlicher
und politischer Ebene sind in der Jakobsgeschichte wichtige Themen angesprochen: die Sippe (Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie) zusammen alten, gewaltfreie Wege der Konfliktlösung suchen, fürsorglich, verbindlich und versöhnlich sein, einen guten Raum und Platz für alle suchen und schaffen.
Wenn ich die Jakobsgeschichte auf mich wirken lassen, fühle ich mich in besonderer Weise auch in meinem Glauben angesprochen und gefragt: Welche Rolle spielt Gott in meinem Leben? Was ist das für ein Gott, der mir einerseits unglaublich Großes für mein Leben zusagt, der andererseits aber auch als (über)fordernd, ja manchmal sogar bedrohlich daherkommt? Kann ich glauben an diesen Gott, der auch auf den krummen Zeilen meines Lebens gerade schreiben kann, der einen Plan mit mir hat, der mich zuletzt in ein großes Einverständnis mit dem Wunderbaren bringt?
Mag. Wolfgang Bögl, Theologischer Assistent der KMB Linz und akadem. Ehe-, Familien- und Lebensberater
Foto: KMB-Linz/Klaus Mastalier