Verschwörungstherorien
Schon während der Pest im 14. Jahrhundert gab es Gerüchte über Brunnenvergiftungen durch eine jüdische Weltverschwörung.
Die Corona-Pandemie sorgt auch heute dafür, dass jede Menge Verschwörungstheorien (neu) aufflammen. Die so genannten „sozialen Medien“ befeuern die Glut. Brauchen wir Schuldige? Macht die Sehnsucht nach Sicherheit anfällig für jede noch so krude Behauptung? Wie kommt es dazu und wie sollen wir darauf reagieren?
Das hatte Andrea* nicht kommen sehen. Bis jetzt kannte sie ihren Bruder Hannes* als höflichen, empathischen und vor allem humorvollen Menschen. Bis jetzt. Begonnen hatte alles völlig harmlos – zumindest aus der Sicht von Andrea. Weihnachten stand vor der Tür und damit die Frage, in welchem Rahmen dieses Fest 2020 gefeiert werden könnte. Unter normalen Umständen hätte sie sich mit allen Geschwistern am 25. Dezember bei ihren Eltern getroffen, so die liebgewordene Tradition. Als Älteste war es seit jeher an ihr, dies zu organisieren. Und so schlug sie – schweren Herzens – ihren Geschwistern in der WhatsApp-Gruppe vor, es dieses eine Mal coronabedingt bei einem Kurzbesuch bei den Eltern, inklusive Geschenkübergabe im Garten, zu belassen. Mehr hatte es nicht gebraucht.
„Schönen guten Morgen, mein liebes Schlafschaf!“ Mit dieser ungewohnt angriffigen Wortwahl begann die Antwort von Hannes. Und dann kam es knüppeldick: Ob sie denn jetzt auch der mit Steuergeldern finanzierten Lügenpresse aufgesessen wäre, die nichts Besseres zu tun hätte, als die Menschen mit dem Märchen vom Supervirus ihren Regierungen gegenüber gefügig zu machen? In dieser Tonart ging es viele Zeilen weiter. Hannes‘ Nachricht schloss mit dem Hinweis, dass er sich den Luxus einer eigenen Meinung gönne, sämtliche Verordnungen fürs Feiern eine schikanöse Zumutung wären und sie zu Weihnachten gerne zuhause bleiben und mit dem „ach so wichtigen Gesichtsfetzen“ Stille Nacht singen könne. Andrea war zunächst sprachlos.
Unsichere Zeiten – einfache Antworten
Verschwörungstheorien schafften im vergangenen Jahr binnen kürzester Zeit den Sprung vom Nischendasein ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Und sie sorgten dabei für reichlich Irritation bis Konfrontation in so manchem Miteinander. Große gesellschaftliche Veränderungen, Umbrüche, Krisen oder Katastrophen bildeten für die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien immer schon einen idealen Nährboden. Man könnte sagen: In unsicheren Zeiten sind einfache Antworten besonders gefragt. Und eine Krise in der Größenordnung der Corona-Pandemie bietet natürlich ganz viele Möglichkeiten, Verschwörer am Werk zu sehen und diese Mutmaßungen via Internet auch im Rekordtempo zu verbreiten. So wird behauptet, dass das Virus in einem chinesischen Labor gezüchtet worden wäre, der Gründer von Microsoft, Bill Gates, aus finanziellen Interessen dahinterstecken würde und den Menschen beim Impfen zwecks besserer Überwachbarkeit ein Mikrochip miteingesetzt werden würde – um nur einige Beispiele zu nennen.
Merkmale für Verschwörungstheorien
In der Wissenschaft ordnet man zuerst die Fakten und zieht aufgrund von diesen dann die Schlussfolgerungen. Verschwörungstheoretiker fangen mit der Schlussfolgerung an und finden dann Gründe, um alles auszuschließen, was ihr nicht entspricht. Eine solche Schlussfolgerung wäre: Es gibt eine weltweit vernetzte Geheimgesellschaft, die sich gegen die Menschheit verschworen hat, um alle Macht zu erringen. Und diese Vereinigung ließ das Coronavirus in einem Labor züchten.
Jetzt sollte man meinen, dass ein Mangel an Beweisen nahelegt, dass es eben keine Verschwörung gibt. Für Verschwörungstheoretiker hingegen besteht der beste Beweis für eine Verschwörung gerade darin, dass es keine Beweise gibt. Denn um erfolgreich zu sein, müssten die Verschwörer sich und ihre wahren Ziele tarnen und sich als Gegenteil dessen ausgeben, was sie in Wahrheit sind. Und wenn man weiß, wer die Nutznießer eines bestimmten Ereignisses sind, kennt man aus Sicht der Anhänger von Verschwörungstheorien ohnehin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch den/die Verschwörer. Ein Schwarz-Weiß-Denken, das die Welt in Gut und Böse, Freund und Feind einteilt, ist in dieser Weltanschauung besonders stark ausgeprägt.
Was Verschwörungstheorien bieten
Verschwörungstheorien reduzieren für ihre Anhänger eine wahrgenommene Komplexität. So wird die Frage nach der Entstehung von COVID-19 kurzum durch die unbewiesene Schuldzuweisung an eine bestimmte Gruppe beantwortet („Die
waren das!“). Anhänger von Verschwörungstheorien sind davon überzeugt, die Wirklichkeit hinter einem vermeintlichen Schein erkennen zu können. Dadurch erfahren sie eine Form von Selbstaufwertung („Ich bin Teil einer nur kleinen Elite, die nicht das glaubt, was uns von den Verschwörern vorgegaukelt wird!“) und dieses Sonderwissen leitet sie schließlich auch in ihrem Handeln („Ich lasse mich sicher nicht impfen!“). Und nicht zuletzt bieten Verschwörungstheorien zuweilen auch Entlastung („Endlich weiß ich, wer an meinen Kopfschmerzen schuld ist: der drei Kilometer entfernte Handymast!“).
Wie reagieren?
Betroffene Angehörige sollten in einem ersten Schritt das Behauptete einem Faktencheck unterziehen. Für einen solchen gibt es online gute Informationsseiten. Wichtig ist vor allem, den bisherigen Kontakt zur betroffenen Person trotz der Meinungsdifferenzen aufrechtzuerhalten und sich bezüglich der
Verschwörungstheorie unmissverständlich zu positionieren („Das sehe ich anders!“). In so herausfordernden Zeiten geht es nicht darum, nach Schuldigen zu suchen, sondern gemeinsam Lösungen zu finden.
Um Orientierung zu bieten, haben die Referate für Weltanschauungsfragen der Diözesen eine österreichweite Kampagne mit dem Titel „Manche glauben …“ gestartet. Die Sujets mit den zentralen Begriffen Corona-Krise, Engel und Glück stehen dabei als Platzhalter für die Themen Verschwörungstheorien, Esoterik
und Lebenshilfeangebote. Zu diesen wurden Informationen für Interessierte und Betroffene zusammengetragen. Alle Fallgeschichten sind anonymisierte Beispiele aus konkreten Anfragen.
* Name von der Redaktion geändert.
Infos und diözesane Kontaktadressen:
www.weltanschauungsfragen.at
Autor: Herbert Mühringer, Referent für Weltanschauungsfragen der Diözese Linz