
Einsamkeit - die versteckte Volkskrankheit
Wenn Kurt (Name von der Redaktion geändert) alleine zu Hause sitzt, kommt es schon vor, dass er zwischendurch sogar mit der Wand redet. Ab und zu sieht er auch Personen, die eigentlich nicht da sind. Für seinen Arzt ist das eine Auswirkung der Parkinson-Krankheit des 73-Jährigen. Doch Kurt weiß, dass die Ursache woanders liegt. „Seit 14 Monaten habe ich den Status ‚einsamer Mann‘“, erzählt der Wiener. Denn genau so lange ist es her, dass seine Frau zur Betreuung ins Pflegeheim musste. Seitdem kämpft er nicht nur mit der Krankheit seiner Frau und seinem eigenen Gesundheitszustand, sondern auch mit der Einsamkeit. Nach über 50 Jahren Ehe eine völlig neue Erfahrung für ihn. „Wenn ich etwas auf der Zunge habe, ist niemand mehr da, dem ich es sagen kann.“
Wie schnell der Lebensweg in die Einsamkeit führen kann, überrascht. Vor sechs Jahren ist das Ehepaar aus dem Waldviertel wieder in seine Heimatstadt gezogen – womit sich der Freundeskreis schlagartig geändert hat. Die alten Wiener Kontakte sind laut Kurt „eingetrocknet“. Und die Bekannten aus dem Waldviertel behaupten zwar immer, sie würden einmal zu Besuch nach Wien kommen. Irgendwie geht es sich dann doch nie aus. Neue Kontakte zu finden, ist für Kurt schwierig. „Für alleinstehende Erwachsene gibt es keine Orte, wo man Leute treffen kann“, meint er. Und nicht mit jedem ist man auf gleicher Wellenlänge. Neben seinen Kindern ist eine Nachbarin die einzige Person, mit der Kurt regelmäßig Kontakt hat und mit der er auch stundenlang „über Gott und die Welt“ reden kann. Doch das Bedürfnis und die Sehnsucht nach anderen Menschen bleibt. Und immer wieder stellt sich Kurt, alleine in seiner Wohnung, die Frage: „Soll das jetzt die nächsten zehn Jahre so weitergehen?“
Neue Volkskrankheit
Kurts Alltag ist kein Einzelschicksal. Eine Untersuchung in 78 Ländern über mehr als 50 Jahre zeigt, dass die Einsamkeit weltweit zunimmt und immer mehr Menschengruppen betrifft – nicht nur Ältere. Großbritannien hat darauf bereits reagiert und 2018 ein eigenes Ministerium für Einsamkeit geschaffen. Immerhin fühlen sich mehr als neun Millionen der über 66 Millionen Briten gemäß einer Umfrage des Roten Kreuzes immer oder häufig einsam. In Österreich fehlen solche Untersuchungen. Einsamkeit gilt als das große Tabu. Und das, obwohl laut Expertinnen und Experten die soziale Isolation, ähnlich wie Burnout, das Potenzial zur neuen Volkskrankheit hat.
„Einsamkeit ist so schädlich, wie 15 Zigaretten am Tag zu rauchen“, sagt der Psychologe Marcus Mund. Er ist Einsamkeitsforscher auf der Friedrich-Schiller-Universität Jena und weiß, dass Einsamkeit nicht nur psychische, sondern auch körperliche Auswirkungen hat. Mit fatalen Folgen bis hin zu früherer Mortalität.
„Das Stresssystem ist bei sozialer Isolation besonders aktiv“, erklärt Mund. Dieser Stress begünstige wiederum Herz-Kreislauf-Krankheiten und sogar Krebs. Damit steht Einsamkeit auf einer Stufe mit Rauchen, Alkoholkonsum und Übergewicht.
Junge Erwachsene am einsamsten
Was Mund bei seinen Forschungen am meisten überrascht hat, ist, dass Einsamkeit kein Thema ist, dass in erster Linie alte Menschen betrifft. „Menschen werden nicht einsamer, nur weil sie älter werden. Am höchsten ausgeprägt ist das Phänomen im jungen Erwachsenenalter“, erklärt der Wissenschaftler. Einer der Gründe sei die hohe Mobilität. Viele verlassen ihren Wohnort, um in einer anderen Stadt zu studieren, und müssen dort erst neue Beziehungen aufbauen. „Wer neu in den Beruf einsteigt, vernachlässigt dafür oft soziale Kontakte“, sagt Mund.
Ist Einsamkeit also – entgegen aller Erwartungen – ein soziales Phänomen, das vor allem unter Jungen grassiert? Und sind es die jungen Männer, die am meisten betroffen sind?
Gottfried Großbointner arbeitet seit 1992 in der PsychologischenBeratungsstelle für Studierende in Wien. Ein Drittel der Studierenden, die bei ihm Rat suchen, sind Männer. „Kaum jemand kommt mit dem Thema Einsamkeit zu mir“, erzählt der Klinische Psychologe. Denn Einsamkeit sei weiterhin ein Stigma. „Da gebe ich zu, dass ich nicht interessant bin. Es ist ein Eingeständnis, versagt zu haben“, so Großbointner. Daher taucht das Thema meist erst im Laufe einer Beratung auf. Immer dann, wenn eine Person sehr still ist und isoliert scheint, lenkt der Psychologe das Gespräch selbst auf das Thema Einsamkeit und fragt aktiv danach. Und er weiß: Einsamkeit ist kein isoliertes Thema, sondern die Folge von anderen Umständen wie Schüchternheit, Kontaktproblemen oder depressiven Verstimmungen. „Im Grunde geht es um einen Mangel an Selbstwert. Die Personen haben Schwierigkeiten, sich in sozialen Situationen zu behaupten und Angst, dass sie für andere nicht interessant genug sind“, erklärt der Studierendenberater.
Rückzug wegen Sozialer Medien
Für Günter Klug, Präsident von pro mente Austria, spielen hier auch die neuen Medien eine wichtige Rolle. Für ihn sind die digitalen Netzwerke alles andere als sozial. „Jugendliche sehen dort, wie sich andere positiv darstellen, wie viele vermeintliche Freunde und Follower sie haben. Weil das bei ihnen selbst nicht klappt, bekommen sie das Gefühl, unzureichend zu sein. Sie beginnen sich zurückzuziehen“, sagt Klug.
Die viele Zeit, die vor einem Bildschirm verbracht wird, hat laut Klug noch eine weitere Folge: „Diese Zeit geht für die Face-to-Face-Kommunikation ab. Die direkten Kontakte – wie beim Einkaufen oder Anrufen einer Person – werden weniger, das Trainingsfeld für soziale Kontakte wird geringer.“
Auch für Großbointner sind Soziale Medien kein Schutz gegen Einsamkeit. „Ich glaube nicht, dass diese Medien Defizite kompensieren können“, erklärt er. Steckt hinter der Einsamkeit eine manifeste Depression, dann lässt sich die Isolation nicht durch einfache Ratschläge beheben. „Hier ist eine Psychotherapie notwendig. Den Selbstwert zu stärken, ist eine Entwicklungsaufgabe, die sich nicht durch die Mitgliedschaft in einem Verein oder einer Sportmannschaft aus der Welt schaffen lässt“, sagt der Studierendenberater. Wirklich relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehen die meisten ExpertInnen bei diesem Thema nicht. Was jedoch auffällt, ist, dass die Suizidrate bei der Gruppe der älteren Männer am höchsten ist. „Speziell dann, wenn die Partnerin vorher stirbt“, sagt Klug.
„Du bist ein Mensch, der Menschen braucht“
Wie man der Einsamkeitsfalle nach dem Tod der Ehefrau entkommen kann, hat Leopold Stieger durchlebt. 46 Jahre war er mit seiner Frau verheiratet. Aufgrund einer schweren Krankheit war klar, dass die Lebenszeit seiner Partnerin in naher Zukunft zu Ende gehen wird. „Ich lebte mit jemandem zusammen, dessen Uhr man ablaufen sieht. Es war nicht zu verhindern“, sagt der 81-Jährige. Was ihm in dieser schweren Situation geholfen hat, war sicher auch die Einstellung seiner Frau, die ihn bestärkt hat, eine neue Partnerin zu suchen. „Du bist ein Mensch, der Menschen braucht. Ich wünsche dir, dass du eine Partnerin findest“, hat sie zu ihm gesagt. Zugutegekommen ist Stieger sicherlich auch sein eigener aktiver Charakter. Als Management- und Personalentwickler gehörte es zu seinem Berufsbild, hinaus in die Unternehmen zu gehen und aktiv Kontakte zu pflegen. Dennoch weiß er, wie schnell diese Kontakte auch schwinden. „Wenn man aus dem Beruf ausscheidet, ist der Grund für den Kontakt nicht mehr da“, meint Stieger.
Netzwerke erweitern
Nach dem Tod seiner Frau war für ihn daher klar: „Ich muss meinen Hintern aus dem Haus hinausbewegen.“ Stieger hat aktiv begonnen, seine persönlichen Netzwerke wieder zu erweitern: „Ich habe mich gefragt: Wo wurde ich früher immer eingeladen? Wo kann ich anknüpfen?“
Eingefallen ist Stieger dann auch eine Dame, die er mehrmals beim Joggen getroffen hatte. Er kannte sie zwar nur vom Zuwinken und wusste nicht einmal ihren Namen. Dennoch war für ihn klar: „Die musst du suchen.“ Mögliche Zweifel ließ der Pensionist gar nicht erst aufkommen. „Mein Wunsch, nicht alleine zu sein, war größer als alle Probleme. Mir war auch klar, dass ich bei der Suche nach einer Frau Kompromisse eingehen muss.“
Über einen Bekannten konnte Stieger dann den Kontakt zu dieser Dame herstellen – und es hat funktioniert. Blieb nur mehr die Frage offen: Wie gehen Kinder und Enkelkinder mit dieser neuen Situation um? „Ich kann hier kein Rezept geben“, gesteht Stieger offen ein. So hat sich einer seiner Enkel beim ersten Besuch mit der neuen Frau an seiner Seite in der Ecke verkrochen. „Er hat geglaubt, dass ich jetzt nicht mehr an das Grab seiner Oma gehe. Das mache ich natürlich trotzdem“, sagt Stieger.
Menschen in Kommunikation bringen
Dass Stieger realistisch und kompromissbereit an die Partnersuche gegangen ist, ist durchaus ungewöhnlich. Das bestätigt Sozialarbeiter Erwin Hayden-Hohmann von der Männerberatung St. Pölten. „Viele Männer drohen trotz sozialer Kontakte zu vereinsamen. Ein Grund dafür ist, dass sie Beziehungen sehr idealisiert ansehen und damit an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Sie sagen: Ich habe keinen wahren Freund, alles andere zählt nichts“, erklärt der Männerberater. Neben dieser Abwertung vorhandener Beziehungen spielen auch Misstrauen und Abhängigkeiten eine Rolle. „Männer glauben oft, ausgenützt zu werden, und haben Angst vor Schieflagen in Beziehungen“, so Hayden-Hohmann. Was Stieger daher allen Männern in einer ähnlichen Situation empfiehlt: „Haben Sie Mut, selbst auf die Suche nach einer möglichen Partnerin zu gehen, hoffen Sie
nicht nur auf ein Wunder“.
Dass Maßnahmen zur Vermeidung von Einsamkeit auch finanziell günstiger sind, als deren Auswirkungen zu behandeln, hat Großbritannien mit der Einrichtung des Einsamkeit-Ministeriums verstanden. Auch Österreich hätte gute Rahmenbedingungen, um auf präventive Maßnahmen zu setzen. „Als Land der Vereine haben wir gute Möglichkeiten, die Menschen wieder stärker in Kommunikation und zu gemeinsamen Aktivitäten zu bringen“, sagt pro-mente-Präsident Klug.
Beispiele, wie das funktionieren kann, gibt es bereits. In den Projektregionen Eferding in Oberösterreich und Groß-Enzersdorf in Niederösterreich sind die sogenannten Caring Communities gestartet. „Es geht darum, die alltägliche Aufmerksamkeit füreinander zu stärken. Zum Beispiel durch nachbarschaftliche Netzwerke“, sagt Klaus Wegleitner vom Institut für Pastoraltheologie und -psychologie der Uni Graz. Er begleitet die Projekte wissenschaftlich. „Wir schaffen auch Orte, an denen Menschen wieder miteinander ins Gespräch kommen“, sagt Wegleitner. Das geschieht beispielsweise bei „Erzählcafes“, bei denen ältere Menschen von ihren Lebenserfahrungen berichten, oder bei Gesprächsrunden, wo darüber philosophiert wird, was ein gutes Leben ausmacht.
Dörfliche Strukturen nutzen
Oder es entstehen Brieffreundschaften zwischen Jungen und Alten. Wie bei der Josefstädter Initiative „ACHTSAMER 8.“, die ebenfalls den sozialen Austausch unterstützt. „Wir wollen soziale Teilhabe für alle ermöglichen. Die Strukturen dafür wachsen aus dem Bezirk heraus. Der 8. hat einen eher dörflichen Charakter, das macht die Vernetzung einfacher“, sagt Daniela Martos, Initiatorin des Projekts.
Einsamkeit hat viele Gesichter. Aber sie hat keine Stimme. Wer einsam ist, ruft nicht um Hilfe, sondern zieht sich immer weiter zurück. Initiativen zur Stärkung der sozialen Ressourcen sind ein wichtiges Signal, um Menschen wieder mehr zueinander zu bringen und die Achtsamkeit für den anderen zu erhöhen. Was es braucht, ist aber auch ein politischer Wille, dieses unter der Oberfläche befindliche Phänomen ins Zentrum der Aufmerksamkeit
zu rücken.
Autor: Markus Mittermüller