Lebendige Orte sind anziehend
Wo diese Lebendigkeit spürbar ist, dort möchten sie dabei sein. Was heißt das für die Pfarren und die Kirche?
Der Franzose Jean Cocteau meinte: „Die meisten Menschen leben in den Ruinen ihrer Gewohnheiten.“ Andere raten: „Wenn du ein totes Pferd reitest, dann steig ab.“ Heute ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Kirche in der Nähe der Amtskirche vielen Menschen als totes Pferd erscheint, zumindest als mehr oder weniger große Ruinenstadt von Gewohnheiten, zum Teil blutleerem und hohlem Aktivismus oder veralteten, gestrigen Lebensansichten.
Hier erfindet sich Natur neu
Es ist so ähnlich wie mit dem Bayrischen Wald um die Jahrtausendwende. Ein „schöner Fichtenwald“, der durch einen mächtigen Sturm und in Folge vom Borkenkäfer zerstört wurde. Damals haben alle gerufen: „Schnell aufräumen, den Borkenkäfer bekämpfen, Totholz raus und den alten Zustand wiederherstellen!“ Das war die erste Idee. Dann tauchte die zweite rettende Idee auf: „Lasst doch die Natur mit ihrer in sich steckenden Kraft sich selber genau hier neu erfinden.“ Bei den dortigen Tourismustreibenden war diese Sichtweise schwer zu verstehen. Der „schöne“ Wald jetzt mit Totholz übersät, allerlei Stauden, neues Gewächs wuchert, bisher Unbekanntes nimmt Platz. Und eine tiefe Ungewissheit: Ob diese „neue Natur, der neue Wald“ für Touristen anziehend ist?
Die von selbst aufkeimende Waldvielfalt ließ bei den Besucherinnen und Besuchern sehr schnell Neugierde wachsen: Was heißt, die Natur erfindet sich hier neu? Diese Frage führte viele in den Bayrischen Wald und sie bewunderten die „wunderschöne Vielfalt“. Insider bestätigen heute: jene Tourismusbetriebe, die das Alte herbeijammerten, gingen mit dem Alten unter. Jene Tourismusbetriebe, die sich auf das Motto „Hier erfindet sich die Natur neu“ eingelassen haben, haben sich selbst mit der Natur neu miterfunden. Sie sind mittlerweile in Deutschland Leitbetriebe eines neuen, ökologischnachhaltigen Tourismus.
Warum dieses Beispiel?
Die Kirche war bis hierher dieser „schöne“ Wald. Sturm und Borkenkäfer rütteln an ihm. Die männlich-klerikale Monokultur, die alten Gewohnheiten und die „Das-ist-bei-uns-schon-immer-so-Tradition“ halten dem nicht weiter stand. Es wird dieses neue Denken brauchen: „Hier erfindet sich mit der den Getauften innewohnenden Kraft Kirche neu. Die im Boden schlummernden Samen gehen auf. Die Freude an der neuen Vielfalt der Kirche – konkret auch der Pfarre – wird neuen Leuten Freiraum und Platz geben, sie anziehen. Eben: Neuer Wein in neuen Schläuchen.
Geh als Mensch zu Menschen
Ein doch recht ernüchtertes, dumpfes Gefühl hat sich unter kirchlich Engagierten breitgemacht: „Die Kirche tut sich schwer, ihre Botschaft an die Menschen zu bringen. Von Gott sprechen oder gar Gotteserfahrungen zu er möglichen, schein unmöglich Der Glaube ist irrelevant für das praktische alltägliche Leben geworden. Ersatzreligionen wie Rapid oder Esoterik sind auf der Überholspur.“
Kirchlichkeit hat ihre tief verankerte Selbstverständlichkeit verloren – bis hinein in die Familie. Das familiäre Tischgebet ist beispielsweise eine Seltenheit und die Sonntagskultur mit dem Sonntagsgottesdienst eine Nebensächlichkeit. Dazu hat die neoliberal- kapitalistische Marktlogik alle Lebensbereiche erfasst und das „Geldmachen“ in den säkularen Tabernakel gehoben: Individuelles Glück ganz oben, die gemeinschaftlichen Rituale eliminiert und den solidarischen Zusammenhalt flexibilisiert.
Ernüchternd. Was tun? Über viele Jahre war es mir geschenkt, bei und mit Bischof Maximilian Aichern zu arbeiten. Ihm war immer diese Reihenfolge wichtig: Zuerst Mensch, dann Christ und in Folge die Funktion wie Pfarrgemeinderat, Priester, Gruppenleiterin oder Bischof. Nie umgekehrt. Der hl. Franziskus hat schon vor etwa 800 Jahren gewusst: Wenn du predigen gehst, dann ist dein Gehen die Predigt. Beide Sichtweisen zeugen von einer tiefen Wirklichkeit, die heute aktueller ist denn je. Es braucht Menschen zu Menschen und es ist die Körpersprache, die spricht, weniger die Worte, das Gesagte. Und genau diese Körpersprache der Kirche ist sehr oft eine alte, eine müde und zum Teil eine frustrierte. „Sturm und Borkenkäfer“ – gerade auch von innen – machen ihr zu schaffen, auch den Pfarren und engagierten Gruppen in den Pfarren.
Es geht um die Früchte
Der Gründer von PASTORALINNOVATION.org in Graz, Dr. Georg Plank, betont im Gespräch die Wichtigkeit eines „Wachstums im Blick auf gute Früchte“:
„Das ist ein biblisches Bild.“ Es geht nicht um den Baum, sondern um seine Früchte. Es geht nicht um die Kirche, die Pfarre, die KMB-Gruppe, sondern um die Wirkung bei den Menschen. „Wenn ein Mann sagt: Durch die KMB-Gruppe habe ich gelernt, besser mit meinen typisch männlichen Gefühlen umzugehen, uns als Frau und Mann wirklich auf Augenhöhe zu verstehen oder mich für faire Arbeits- und Familienbedingungen einzusetzen, dann sind Früchte gewachsen. Solche Wirkungen sind gemeint.“ Plank weiß durch seine Feldarbeiten und internationalen Projekte zu gut, dass vieles hier im Argen liegt. „Wenn wir mit engagierten Menschen, die schmerzlich Niedergang und Sterben erleben, von Wachsen reden, dann könnte das als Vorwurf oder gar als Zynismus missverstanden werden. Uns ist klar: Alles hat seinen Lebenszyklus, manches muss zuerst sterben, um dem Neuen Platz geben zu können. Oft ist eine gute Sterbebegleitung die bessere Saat für die Zukunft als gaukelnder und strauchelnder Aktionismus.“
Wachsen geht
Und doch weiß der Pastoralexperte: „Wenige kirchliche Initiativen in der westlichen Welt wachsen, aber die aufgrund hoher Qualität.“ Plank stellt drei „Qualitätskriterien“ in den Raum, die ein Wachsen entlang des biblischen Früchtebildes ermöglichen. Als erstes Qualitätskriterium benennt er „Fremdenfreundlichkeit und Gastfreundschaft. Es gibt kein neues Wachstum ohne Offenheit, Neugierde und Zuneigung dem Fremden, dem Neuen gegenüber.“ Das Gegenteil sind Stolz und Selbstbezogenheit, die oft eine Abschottungsdynamik dem Neuen gegenüber zur Folge haben. Beim zweiten Qualitätskriterium geht es darum, Freundschaften zu ermöglichen: „Eine KMB-Gruppe oder eine Pfarre muss der Ort sein, wo ich echte Freunde finden kann.“ Das Gegenteil sind geschlossene Zirkel oder Kuschelgruppen, die niemanden hereinlassen. Gute Freunde finden können, kennzeichnet christliche Gegenkultur und macht Orte lebendig.
Als drittes Qualitätskriterium benennt der berufliche Pastoralinnovator Gerechtigkeit und Solidarität: „Jeder ist gleich viel wert. Der Zusammenhalt liegt nicht an Status, Macht, Reichtum oder Ansehen, sondern gestaltet sich für Außenstehende oder Neue als vorurteils- und barrierefrei, zutiefst geschwisterlich.“ In solchen Milieus und Biotopen wird die Menschenfreundlichkeit Gottes mitten unter den Menschen erlebbar, spürbar, wahrnehmbar, sichtbar. Mit einem warnenden Unterton ergänzt Plank: „Noch so gute Absichtserklärungen und Pastoralpläne reichen nicht. Entscheidend ist, was die anderen, die Neuen, die Fremden tatsächlich erleben. Was erzählen sie zu Hause, nachdem sie bei uns waren? Je geringer die Kluft zwischen Behauptungen und Erlebtem ist, desto eher entstehen spürbare Innovationen. Zahlenmäßiges Wachstum ist dann die Folge solcher Verbesserungen.“ Wenn beispielsweise der Altersunterschied von Älteren und Jüngeren zu groß wird, plädiert der Pastoralinnovator eher für Neugründungen mit großer Freiheit, wie die nächste Generation die Gründungsideen heute umsetzt.
Die ganze Pfarre soll gesunden
Angesprochen auf die besondere Rolle des Priesters in der katholischen Kirche und den Pfarren gibt Plank zu bedenken, „dass die ganze Pfarre als Leib Christi gesunden soll. Wir helfen den Pfarren, zuerst gesund und dann wieder dynamisch zu werden. Das ermöglicht vielen Menschen, ihre konkrete Berufung zu entdecken und zu leben, gerade auch dann, wenn priesterliche Dienste vor Ort abnehmen oder nicht vorhanden sind. Das Haupt der Kirche ist Christus, nicht der Priester.“
Plank erlebt Pfarren, die wirklich krank sind und Heilung brauchen, nicht neuen Aktionismus. Zunächst ist daher ein Genesungsprozess notwendig. Dann erst kann man für andere da sein. „Frustration, Überforderung und Resignation nagen an der Seele vieler Engagierter und verdienen heilende Aufmerksamkeit. Die Person und Rolle des Priesters ist nicht Dominanz, sondern dienende Leitung im Geiste Jesu. Es braucht von allen die tiefe Einsicht: Kirche ist als Ganze sakramentale Gemeinschaft.“ Plank verweist auf die engführende Eucharistie-Zentrierung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Im liturgischen Bereich wirken vielfältige Formen des Gebetes und spirituellen Zusammenseins belebend und anziehend: Stundengebet, Andachten, Wortgottesfeiern, Kinderkirche, aber auch Taizégebete oder ein moderner Workshop sind nicht Ersatz für die Messfeier, sondern Ausdruck eines vielfältigen Gemeinschaftslebens mit Jesus Christus in der Mitte. Das ist auch im digitalen Raum möglich.“ Auch nach dem Ende der Volkskirche könnten weit mehr Menschen so eine persönliche Beziehung zu sich selbst, ihren Nächsten und Gott entwickeln als in einer liturgischen und kirchlichen Monokultur. Musik, Theater, Bewegung und Soziales bieten dafür besondere Felder für kreative und bunte Experimente.
Beziehung heilt
„Wenn der liebe Gott mir nur zwei Worte zugestehen würde, um die Herausforderungen der heutigen Zeit im kirchlichen, aber genauso im gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben, dann wären das: Mut und Synapsen.“ Dieser Satz ist in meinem Buch „Anpacken, nicht einpacken!“ zu lesen. Mut ist die Kraft, persönlich Verantwortung zu übernehmen für meine und gemeinsame Schritte in die Zukunft. Synapse sagt, dass Wirklichkeit und Identität in der Verbindung, in der Anschlussfähigkeit liegen. Die Identität des Baumes liegt nicht nur in der Wurzel, sondern genauso in der osmotischen Anschlussfähigkeit zur Umgebung, zu Licht und Luft. Synapsenfähigkeit ist eine besondere Fähigkeit von Menschen. Gerade in kirchlichen Milieus ist der „Wurzel-Fokus“ weit verbreitet, wird exzessiv zelebriert und es herrscht Angst vor neuen Synapsen (Verbindungen) hin zum Licht von heute. Gerade das Andere, das Fremde, das Ungewöhnliche, das Überraschende, das uns schwer Herausfordernde macht lebendig, vertreibt Bequemlichkeit und Gewohnheit. Es braucht in christlichen Milieus weniger Wurzel-, sondern mehr Synapsen- Spiritualität. Denn: Beziehung heilt.
Gelebte Werte, tiefe Rituale und solidarische Zugehörigkeit
2011 war ich bei einem Thinktank für Zukunftsfragen bei David Bosshart im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Zürich. Es ging um die Einschätzung der Zeit nach der Finanzkrise 2008. Bosshart meinte: „Für mich ist die Finanzkrise nicht die erste Herausforderung. Viel mehr beschäftigt mich der rasante Niedergang der katholischen Kirche.“ Die anderen Teilnehmer überhörten das, bei mir sind die Ohren angewachsen. Was meint er damit? „Die Welt braucht die Ideen des Christentums.“ „Was fehlt der Welt?“, frage ich weiter. „Die Welt und auf ihr die Menschen global brauchen gelebte Werte, tragende Rituale und solidarische Zugehörigkeit. Das fehlt, weil die Kirche rein mit sich selbst beschäftigt ist.“
Das war 2011. Die Erfahrung zeigt: Menschen suchen immer Menschen, die Werte leben, als Orientierung, Stütze und Korrektur. Menschen brauchen Rituale, die sie herausheben aus dem zäh dahinfließenden Immer-Gleichen des Alltags. Und Menschen hören einen Satz am liebsten: Schön, dass du da bist. Du gehörst zu uns. Und Gott geht unsere Wege mit. Wäre das nicht etwas für die KMB-Gruppen und die Pfarren? Die jesuanischen Werte leben, die Rituale in ihrer fröhlichen Tiefe „neu zelebrieren“ und die barrierefreie, offene, in allem solidarische Zughörigkeit konkret leben. Nur Mut!
Autor: Ferdinand Kaineder; Theologe, Kommunikationscoach, PR-Berater, Buchautor
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„Menschen suchen Lebendigkeit“, lautet das Credo von Ferdinand Kaineder. „Wo Lebendigkeit ist, da möchte ich mit dabei sein.“ Er schreibt über lebendig machende Dynamiken von Organisationen, Vereinen, Bewegungen, Initiativen und Communities. Sein „DREIRAUMMODELL“ – Mitmachen, Vernetzen und Verstehen – soll dabei helfen, Lebendigkeit, Zukunft und wesentliche Aspekte von solidarischen und vielfältigen Gemeinschaften sichtbar zu machen und weiterzuentwickeln.
Ein Ermutigungsbuch für alle, denen eine nachhaltige und solidarische Zukunft ein
Anliegen ist.
240 Seiten, Herder Verlag, ISBN: 978-3-451-38838-5, 20,60 €