Für eine Welt der Geschwisterlich-keit und der sozialen Freundschaft
Der Papst analysiert zuerst die „Schatten einer abgeschotteten Welt“, welche die
Entwicklung einer Geschwisterlichkeit aller Menschen behindern und welche sich immer weiter über die Welt ausbreiten; gemeint sind die Umstände, die verantwortlich dafür sind, dass die Ausgegrenzten und Verletzten am Rand des Weges liegenbleiben: ausgestoßene, weggeworfene Menschen. Im Anschluss daran legt Franziskus eine katechetische Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter als ein Licht in der Dunkelheit vor. Wenn wir einem verletzten Fremden am Straßenrand begegnen, können wir zwei Haltungen einnehmen: Wir können vorbeigehen oder anhalten, um zu helfen. Je nachdem, ob wir den verletzten Fremden aufnehmen oder ausschließen, zeigen wir, welche Art von Mensch wir sind oder welcher politischen, sozialen und religiösen Gruppe wir angehören.
Als der Papst die Enzyklika verfasste, brach unerwartet die Pandemie Covid-19 aus, die unsere falschen Sicherheiten entlarvt und unsere Unfähigkeit zur zusammenarbeit ans Licht gebracht hat. Diese globale Tragödie, die mit so viel Leid, Unsicherheit und Angst einhergeht, verlangt „unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken“. Die Pandemie macht deutlich, dass alles zusammenhängt: Keiner kann sich allein retten, wir können nur gemeinsam gerettet werden. Darin ist die Grundthematik des päpstlichen Schreibens zusammengefasst.
„Fratelli tutti“ ist in Kontinuität mit der bahnbrechenden Enzyklika „Laudato sí“ von 2015 zu lesen. Ist die Grundidee von „Laudato sí“, dass alles im globalen gemeinsamen Haus miteinander verbunden ist, so ergänzt „Fratelli tutti“, dass alle miteinander als weltweite menschliche Familie verbunden sind. Papst Franziskus lädt dazu ein, eine soziale und politische Ordnung zu schaffen, deren Seele die soziale Nächstenliebe ist. Er fordert dazu auf, die Politik wieder zu einer der wertvollsten Formen der Nächstenliebe zu machen, weil sie das Gemeinwohl anstrebt.
Die Enzyklika ist ein großes Plädoyer für internationale Zusammenarbeit. Globale Probleme brauchen globale Lösungen. Dabei gilt das Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung. Die reichen Industriestaaten tragen eine größere Verantwortung als die armen Länder des Südens, und zwar aus zwei Gründen: Historisch haben sie mehr zur Ausbeutung und Schädigung der Umwelt beigetragen und wirtschaftlich haben sie größere Möglichkeit, das System zu verändern.
Schade ist, dass in dem Schreiben in den mehr als 200 Fußnoten keine einzige Frau zitiert wird. Gerade die katholische Männerbewegung sollte sich umso mehr für die Gleichberechtigung der Frauen in Gesellschaft und Kirche einsetzen.
Diese Enzyklika bekräftigt die geistliche und moralische Autorität von Papst Franziskus. In Treue zum Zweiten Vatikanischen Konzil vertritt er eine Kirche im Dienst an der Einheit der Menschheit und der Förderung von Gerechtigkeit, Frieden und der Bewahrung der Schöpfung. Im Angesicht der Opfer einer abgeschotteten Welt lädt der Papst dazu ein, uns für eine geschwisterliche Welt einzusetzen und dabei von der Einsicht auszugehen, dass wir „Fratelli tutti“, alle Brüder und Schwestern sind.
Autor: Martin Maier SJ, geb. 1960 in Messkirch, Süddeutschland, ist 1979 in den Jesuitenorden eingetreten und hat Philosophie, Theologie und Musik studiert.
Von 1998 bis 2009 war er Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“. Seit 2013 wirkt er als Beauftragter für europäische Angelegenheiten des Jesuitenordens in Brüssel.