In die männliche Kraft kommen
Denn – Achtung Spoiler! – abendliches Lümmeln vor dem Fernseher bietet keine echte Erholung.
Christoph Enzinger ist tiefenentspannt. Der Oberösterreicher liegt in der Hängematte im Garten seines Hauses, umgeben von Mühlviertler Wiesen und Feldern. Die Vögel zwitschern. Ein leichter Wind bringt die Blätter rundherum zum Rascheln. Sonst ist es still.
„Die Stille“, sagt der Softwareentwickler, „ist definitiv eine meiner Kraftquellen.“ Mindestens einmal in der Woche nimmt sich Enzinger bewusst dafür Zeit. Nicht liegend in der Hängematte, sondern meist sitzend mitten im Wohnzimmer des Einfamilienhauses, das der 51-Jährige mit seiner Frau und den zwei jugendlichen Kindern bewohnt. Hin und wieder begleitet vom Gong einer Klangschale, manchmal eingeleitet mit einem kurzen Gebet. „Für mich ist das wirklich eine Quelle der Ruhe einerseits und der Kraft andererseits.“
Darüber hinaus besucht Enzinger regelmäßig Gruppenmeditationen für Männer in Wien. Dort schweigt und meditiert man nebeneinander – und tauscht sich danach darüber aus. Dass ausschließlich in der Ruhe die Kraft liegt, stimmt für Christoph
Enzinger aber nicht. Da ist außerdem die Musik, selbst gemacht am Klavier, an der Orgel oder mit dem Saxophon. „Ich spiele fast täglich Klavier. Am besten kann ich mich entspannen, wenn ich vor mich hinspiele“, sagt Enzinger. „Aber ich liebe es auch, für andere zu musizieren, zum Beispiel bei Geburtstagsfeiern. Das mach‘ ich narrisch gern.“ Und dann sind da die Männerredekreise, derzeit zwei, die Enzinger besucht und mitorganisiert. Die sind für ihn Kraftquellen schlechthin. Etwas, was er sich für jeden Mann wünschen würde. Eine persönliche Entdeckung, über
die der Oberösterreicher viel zu erzählen hat. Doch dazu später.
Wichtig: Das Wissen, leistungsfähig zu sein
Musik, Meditation, beim Klettern an körperliche Grenzen gehen, an einem Fahrzeug herumschrauben, das Feierabendbier mit dem besten Freund oder ganz etwas anderes: Wie Männer ihre leeren Krafttanks wieder aufladen, sei ganz und gar individuell, sagt Frank-Gerald Pajonk, Arzt, Psychiater und Leiter der Praxis Isartal im Kloster Schäftlarn südlich von München. Auch wenn es durchaus Tätigkeiten und Erfahrungen gebe, aus denen viele Männer Kraft schöpfen würden. Männer, sagt Pajonk, würden tendenziell anders mit Stress und körperlichen und emotionalen Bedürfnissen umgehen als Frauen. „Männer neigen eher dazu, ihre Lebensbereiche zu ‚partitionieren‘, anstatt sie zu integrieren.
Das heißt, die einzelnen Teile – der Teil Familie, der Teil Beruf, der Teil Freizeit beispielsweise – stehen nebeneinander. Wenn sie in einem dieser Bereiche Stress haben, können sie ihn durch einen anderen Bereich wieder ausgleichen.“ Ein Vorteil – einerseits. Andererseits bestehe die Herausforderung darin, die voneinander getrennten Bereiche innerhalb der einen eigenen Persönlichkeit zu integrieren.
Noch ein Charakteristikum vieler Männer, das sowohl Energie geben als auch rauben kann: „Das Wissen, leistungsfähig zu sein, eine Familie versorgen zu können, ist für viele Männer sehr wichtig. Auch wenn es nicht immer ausgesprochen wird, sind Dinge wie ein Haus, Urlaub oder das Auto klassische Motive, die Männer antreiben.“ Antreiber, die auch schnell zur Erschöpfung
führen würden. Dann nämlich, wenn es Männer mit der Anstrengung dafür übertreiben. Oder wenn sie das Gefühl haben, zu versagen und nicht das zu schaffen, was sie möchten. Frank-Gerald Pajonk: „Dann können Männer sogar depressiv werden.“
Keine Erholung durch Fernsehen und Handy
Wer – aufgerieben zwischen den Anforderungen in Beruf und Familie und körperlich und emotional erschöpft – jeden Abend auf der Couch vor dem Fernseher liegt, dürfe sich davon keine wirkliche Erholung erwarten, sagt Pajonk. Denn Fernsehen, genauso wie das Surfen im Internet oder Computerspielen am
Handy, seien bestenfalls Formen der Ablenkung und Zerstreuung, jedoch keine echten Kraftquellen. „Es gibt aktive und passive Formen der Erholung. Sport, Meditation oder auch ein Saunabesuch sind aktiv. Zu den passiven Formen zählt, ein Buch zu lesen oder gute Musik zu hören. Fernsehen gehört nicht einmal zu den passiven Erholungsformen“, erklärt Pajonk.
Krafttanken habe viel mit Pause-Machen zu tun. Das sei ein physiologisches Prinzip, das generell im Menschen angelegt ist. „Unser Organismus ist geprägt von Aktivität und Pause. So ist das beim Herzschlag, bei der Atmung oder bei der Darmtätigkeit, und so funktioniert auch unser Lebensrhythmus.“ Bloß, das Handy
aus der Hosentasche zu ziehen, geht leichter, als sich morgens um sechs zum Joggen aufzuraffen. Was also tun gegen den inneren Schweinehund, der es oft schwer macht, bekannte Kraftquellen anzuzapfen? Priorisieren und wenn notwendig Unterstützung von anderen holen, empfiehlt Pajonk. „Man muss sich zuerst deutlich machen, dass das, was man tun möchte, jetzt wirklich wichtig ist. Und dann kann man sich selbst Mut zusprechen, zum Beispiel mit Sätzen wie ‚Du
schaffst das!‘,‚Es wird dir danach besser gehen‘.“ Hilft das alles nichts, verabredet man sich am besten mit einem Freund. Denn wenn der in aller Frühe an der Straßenecke wartet, fällt es auch leichter, aus dem Bett und in die Turnschuhe zu hüpfen.
Ich bin nicht allein
Mit dem inneren Schweinehund hat Christoph Enzinger weniger zu kämpfen. Er weiß, was ihm guttut und setzt sich, wenn er das Bedürfnis hat, ans Klavier oder zum Meditieren ins Wohnzimmer. Dafür ist er vor einigen Jahren in eine heftige Midlifecrisis geschlittert. Und hat nahezu zeitgleich Männerredekreise für sich entdeckt. Ein Segen für ihn. „Ich habe in meiner Krise gedacht, ich bin der einzige, der sich verlassen fühlt, der diese blöden Probleme hat, die sich nicht lösen lassen. Im Redekreis hatte ich ein Aha-Erlebnis: Ich bin nicht allein. Auch den anderen
geht’s so oder sogar noch schlimmer.“ Seitdem gehören Männerredekreise zu Enzingers Leben und haben sich für ihn zu einer echten Kraftquelle entwickelt.
Das Prinzip ist einfach: Ein so genannter Redestock liegt in der Mitte und wird an den Mann weitergereicht, der etwas sagen möchte. „Die Redestockmethode ist genial. Besonders für introvertierte Männer, die meinen, andere in der Runde hätten eh schon alles gesagt. Sie erleben, dass alle Männer gleichwertig und gleich wichtig sind. Denn wer den Redestock hat, bekommt ungeteilte Aufmerksamkeit.“ Diskussionen seien in einer derartigen Männerrunde fehl am Platz. Ebenso wie Belehrungen einzelner, die sich im Gespräch besser als andere hervortun können.
„Männer erleben sowas im normalen Alltag nicht. Da müssen sie sich behaupten, sind aufs Siegen aus. Im Redekreis können sie das Verborgene als Gabe für die anderen einbringen.“ Dazu gehöre natürlich eine gewisse Vertrautheit und zuallererst die Bereitschaft, sich so eine Runde einmal anzuschauen.
Autorin: Sandra Lobnig