Falsche Freunde
Mit 14 Jahren hat Martin für sich den Alkohol entdeckt. Eine Zeit, in der man das Spiel mit Identitäten genießt, weil man selbst noch nicht so richtig weiß, wer man eigentlich ist. „Ichwar familiär nicht vorbelastet, hatte zuhause keine Probleme!“, räumt er im Gespräch mit einem der gängigsten Vorurteile bezüglich Alkoholsucht auf. Auch hatte er einen großen Freundeskreis – und trotzdem (oder gerade deswegen) ließ er es geschehen, dass sich ein falscher Freund namens Alkohol, quasi ein Wolf im Schafspelz, in seinem Leben immer mehr einnistete. Beim Weggehen sei das eine oder andere Bier geleert worden, erinnert er sich, wie das halt so sei in diesem Alter. „Wir fühlten uns erwachsener. Und es war ein Kräftemessen: Wer verträgt mehr?“ Wann genau das Trinken nicht mehr Genuss war, sondern zur Sucht wurde, wisse er nicht genau, denn „der Übergang in die Sucht ist immer fließend. Ich weiß aber, dass die Zeit beim Bundesheer ausschlaggebend war. Dort wurde in der Freizeit viel gefeiert“. Das Trinken war bald nicht nur auf Bars und auf Samstagabende beschränkt, sondern „auch daheim am Abend genehmigte ich mir gerne die eine oder andere Flasche. Und bei Mittagessen mit Freunden oder Kunden“. Die Quantität stieg, die Toleranzgrenze fiel.
Fokus: Alkohol
Schnell schritt die Sucht voran. „Dein gesamtes Denken, dein gesamter Tagesablauf kreist nur noch um folgende Punkte: Wo krieg ich das Geld für Alk her? Wo krieg ich den Alk selbst her? Wie und wann trinke ich den Alk? Kann ich den Rausch ausschlafen?“ Einschlafen ohne Alkohol war unmöglich geworden, das morgendliche Aufstehen ebenso. „Ich habe es nicht aus der Wohnung geschafft, ohne mir vorher drei Flaschen Bier reinzuschütten. Ich musste trinken, um mir überhaupt etwas zum Trinken organisieren zu können.“ Beziehungen zerbrachen, wodurch der neue, falsche Freund noch wichtiger wurde. Der Job wurde Nebensache, Rechnungen nicht mehr bezahlt. „Mich interessierte nur noch der Alkohol.“ Trotzdem, betont Martin, sei es absolut falsch, Alkoholiker als schwache Menschen hinzustellen: „Es gehört viel Energie und Logistik dazu, dein Leben nach dem Alkohol auszurichten.“
Verharmloste Droge
Martin, heute 54 Jahre alt, ist einer unter vielen, der dem falschen Freund auf den Leim gegangen ist: Rund 350.000 Alkoholkranke gibt es in Österreich, schätzen Experten. „Die Zahl ist in den letzten Jahren leicht gestiegen“, so Dr. Michael Musalek, ärztlicher Direktor der renommierten Wiener Suchtklinik Anton Proksch Institut. „Und: Das Einstiegsalter zum Alkohol sinkt immer mehr, aktuell liegt es in Österreich zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr.“ Das ist zwar erschreckend, aber nicht gänzlich überraschend, kritisiert der Suchtexperte: „Alkohol als Droge wird innerhalb der Gesellschaft immer noch verharmlost. Österreich hat eine hohe Kultur in der Alkoholproduktion, aber leider keine Trinkkultur.“ Diesen scheinbaren Widerspruch bestätigt auch Martin: „Du wirst komisch angeschaut, wenn du nichts trinkst. Aber wenn du offen zugibst, ein Alkoholproblem zu haben, bist du sofort ein Außenseiter.“ So gibt es auch keine bestimmten Personengruppen, die besonders für Alkoholsucht anfällig seien, klärt Musalek auf: „Alkoholprobleme gehen quer durch die gesamte Bevölkerung.“
Geheimnis mit Verlockungen
Nicht immer ist es leicht, zu erkennen, wann aus Genuss eine Sucht wird – weder für Außenstehende, noch für die Betroffenen selbst. Wobei Letzteres oftmals viel mit Selbstverleugnung zu tun hat. „Natürlich wusste ich insgeheim bereits früh, dass ich ein Problem hatte. Aber ich habe es verdrängt, wollte es nicht wahrhaben“, gibt Martin zu. Nachsatz mit Nachdruck: „Das Schwierigste ist, es dir selbst einzugestehen.“ Vor allem auch deshalb, weil Alkohol, wie es falsche Freunde nunmal tun, einem gefährliche Versprechungen und Verlockungen ins Ohr fl üstern: Martin fühlte sich durch das Trinken selbstbewusster, lockerer und – zumindest eine Zeitlang – leistungsfähiger. „Natürlich hat Alkohol auch seine positiven Seiten, sonst würde man ihn ja nicht trinken.“ Vielleicht hat sein soziales Umfeld deshalb nichts von seinem Problem gewusst. Vielleicht lag es auch daran, dass Martin vieles unternahm, um seine Sucht geheim zu halten: Von Bier stieg er auf den geruchlosen Wodka um, im Freundeskreis trank er so gut wie nichts. Kaugummi wurde sein ständiger Begleiter, denn der Schnaps hatte es ihm auch angetan. Alkohol habe er zwar keinen versteckt, aber um Ausreden war er nie verlegen: So zum Beispiel führte er fadenscheinig das immer stärker werdende Zittern seiner Hände auf den zu hohen Koff einkonsum zurück.
Kampfeswille
Apropos: Als die nächtlichen Schweißausbrüche, Schlafl osigkeit und das Hände-Zittern („Ich konnte weder Kleingeld aus der Geldbörse rauszählen, noch ein Formular ausfüllen!“) immer stärker wurden, beschloss Martin, zu handeln: Das Anton Proksch Institut überwies ihn in das Wiener Otto Wagner Spital zum 14-tägigen Entzug. Dort fühlte er sich nicht nur gut aufgehoben, er nahm den Entzug auch ernst: Vor allem die Gespräche mit Psychologen sowie mit anderen Patienten verliehen ihm Kraft – mehr, als es der Alkohol je konnte. „Ich wurde ohne viel Worte verstanden, mein Kampfeswille gestärkt. Ich musste wieder lernen, ein Bewusstsein meines Selbst zu entwickeln, mich anzunehmen.“ Der körperliche Entzug wurde ihm mittels Antidepressiva und Tranquilizer erleichtert.
Weg vom falschen Freund
Seither ist Martin trocken – nunmehr also bereits seit zehn Jahren. Ein großer Erfolg, trotzdem betont er: „Man ist immer alkoholsüchtig. Das ganze Leben lang.“ Wie schaff t er es, dem Alkohol fern zu bleiben? Indem er sich die Tage drittelt – Frühstück, Mittagessen, Abendessen –, denn so bekommt Martins Alltag Struktur. „Das hilft .“ Seine Lebenspartnerin, sein größtes Hobby, das Tauchen sowie sein neuer Job geben ihm zusätzlich Kraft . Außerdem gründete er eine Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke, eine Art Selbsttherapie. Heute weiß Martin: Nur ein Leben ohne falsche Freunde ist ein schönes Leben.
Wie kann die Familie helfen?
„Freunde und Familie von Alkoholkranken erleben oft Ohnmacht, Hilflosigkeit,
Wut und Einsamkeit“, so Erwin Hayden-Hohmann, Koordinator der Caritas Männerberatung in NÖ. Das Wegschütten und -sperren von Alkohol sei keine Lösung, warnt er: „Es ist absoluter Blödsinn, mit einer massiven Grenzüberschreitung das grenzenlose Suchtverhalten kippen zu wollen!“
Sowohl er als auch Dr. Michael Musalek, Ärztlicher Leiter der Wiener Suchtklinik Anton Proksch Institut, rät zu einem persönlichen Gespräch – „aber nur dann, wenn ein gutes Vertrauensverhältnis besteht!“, betont Musalek. „Da Alkoholsucht schambesetzt ist, sollte das Gespräch unter vier Augen stattfinden.“ Zu vermeiden ist die Richter- und Therapeutenrolle. „Es ist gut, das Problem anzusprechen, jedoch nicht im Sinne des Diagnostizierens, sondern im Sinne des Anbietens, entsprechende Anlaufstellen aufzusuchen.“ Stehen Sie dem Kranken bei, seien Sie aber weder Missionar noch Komplize. „Nur der Betroff ene selbst kann seine Sucht beenden!“ Auch Angehörige und Freunde können sich übrigens an Beratungsstellen wenden, denn, so Hayden-Hohmann: „Nur wenn ich für mich selbst sorge, kann ich auch dem Betroff enen helfen.“
Wo bekomme ich Hilfe?
Anton Proksch Institut:
www.api.or.at
Anonyme Alkoholiker:
www.anonyme-alkoholiker.at
Dialogwoche Alkohol: Auf der Website
www.dialogwoche-alkohol.at
finden Sie Empfehlungen für den Umgang mit Alkohol, ein Selbsthilfe-Programm,
einen Selbst-Test und vieles mehr. In der Rubrik „Handeln“ sind die wichtigsten
Beratungsstellen in allen Bundesländern aufgezählt.
Autor: Manuel Simbürger