50 Jahre Humanae vitae
Nachweislich übte eine kleine Gruppe von Theologen Druck auf Paul VI. aus, die bereits während des Konzils vor Veränderungen der traditionellen Ehelehre gewarnt hatten. Das Traditionsargument wog für Paul VI. schwer. Er hat letztlich ja nicht nur gegen das deutliche Mehrheitsvotum der bereits von Johannes XXIII. eingesetzen Kommission zu Fragen der Bevölkerungsentwicklung und der Empfängnisregelung entschieden, sondern auch gegen die mehrheitliche Meinung einer Bischofskommission, die er einberufen hatte mit der Bitte, die Ergebnisse der Studienkommission zu prüfen. Im Übrigen war Paul VI. jedoch von der Richtigkeit des Naturrechtsarguments überzeugt, d. h.: Die Sexualität verbindet in ihrem Wesen die beiden Sinngehalte der Fortpflanzung und der liebenden Vereinigung der beiden Ehepartner. Diese naturgemäße Einheit dürfe durch künstliche Empfängnisverhütung nicht willentlich auseinandergerissen werden. Erlaubt sei es hingegen, die im Zyklus der Frau vorhandenen unfruchtbaren Tage bewusst zu nutzen.
Nach der Veröffentlichung von Humanae vitae zeigten sich nicht nur Ehepaare, sondern auch Bischöfe und Theologen enttäuscht. Joseph Ratzinger z. B. sprach von einem schwierigen Text, dessen Argumentationsweise nicht befriedigend sei. Weltweit haben über 30 Bischofskonferenzen kritisch reagiert, die österreichischen Bischöfe z. B. mit der Mariatroster-Erklärung. Sie haben ausdrücklich auf die Bedeutung der Gewissensentscheidung des Ehepaares hingewiesen, wobei sie auch betont haben, dass sich Ehepaare mit der kirchlichen Lehre auseinandersetzen müssen, um ein Gewissensurteil zu treffen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele katholische Ehepaare, auch solche, die ein bewusstes Glaubensleben führen und aktiv am kirchlichen Leben teilnehmen, sich in der Praxis der Empfängnisregelung nicht an der kirchlichen Lehre orientieren. Die junge Generation weiß vielfach mit dem Stichwort Humanae vitae wenig anzufangen und ist sich gar nicht bewusst, dass oder wieso die Kirche mit der künstlichen Empfängnisverhütung ein Problem hat. Andererseits gibt es aber auch weltweit eine wachsende Anzahl von jüngeren Ehepaaren, die sich ganz bewusst für die natürliche Methode entscheiden und die davon profitieren: Die Verantwortung tragen beide Partner gemeinsam; sie müssen miteinander sprechen und aufeinander Rücksicht nehmen; die Übung der periodischen Enthaltsamkeit hilft ihnen, sensibler für den Körper – besonders der Frau – zu werden, ihren Gefühlen und ihrer Sehnsucht nach Intimität nicht nur durch den Geschlechtsverkehr Ausdruck zu verleihen, gesundheitliche Risiken zu vermeiden usw. Besonders in Bezug auf den letzten Aspekt ist zu sagen, dass bei lang andauernder hormoneller Verhütung viel zu fahrlässig mit den gesundheitlichen Risiken für die Frau umgegangen wird.
Papst Franziskus geht in Amoris laetitia nicht direkt auf die Frage der natürlichen oder künstlichen Empfängnisregelung ein, sondern unterstreicht, dass die gewählte Methode die Würde der Person nicht verletzen darf. Zugleich betont er die Offenheit für die Weitergabe des Lebens, anerkennt aber auch, dass aus verschiedenen Gründen nicht immer tatsächlich ein neues Leben gezeugt werden kann. Er wiederholt das Verbot der künstlichen Methoden nicht ausdrücklich, sondern verweist auf das Gewissen der Eltern, welches entsprechend gebildet sein muss. Er folgt in dieser Frage übrigens den Schlussdokumenten der beiden Bischofssynoden 2014 und 2015 und schließt sich dem Wunsch der Bischöfe an, dass die Botschaft von Humanae vitae wiederentdeckt werden soll. Die Rede von der „wiederzuentdeckenden Botschaft“ zeigt einen veränderten Umgang mit der Enzyklika, der schon bei Benedikt XVI. beobachtbar war. Während Johannes Paul II. streng auf die Einhaltung der Norm pochte, sagte Benedikt XVI., dass zur Anwendung der natürlichen Methode ermutigt werden solle und eine lebbare Lösung gefunden werden müsse.
Was kann das in Bezug auf die Empfängnisregelung bedeuten? Hinter jeder Norm stehen sittliche Werte, die in einer persönlichen Werteinsicht bejaht und sich zu eigen gemacht werden sollen. Bei der Empfängnisregelung sind dies z. B. die Freiheit und die Liebesfähigkeit der beiden Partner, die grundsätzliche Offenheit für Kinder, die Gesundheit der Partner, besonders der Frau, die Rücksichtnahme aufeinander, das Eingehen auf körperliche, seelische, spirituelle Bedürfnisse und das Wohlbefinden der Partnerin bzw. des Partners. Diese Werte finden sich in Humanae vitae, wo Paul VI. von der ehelichen Liebe als vollmenschlicher Liebe spricht, die den ganzen Menschen umfasst und sinnenhaft und geistig zugleich ist, die aufs Ganze geht und nicht unter Vorbehalten steht und die fruchtbar ist. Bedenkenswert sind auch Gefährdungen, die Paul VI. weitsichtig erkannt hat: dass z. B. in einer hedonistisch geprägten Wohlstandsgesellschaft der Sex zu einem Konsumgut wird oder dass die radikale Trennung von Sexualität und Zeugung ethische Probleme mit sich zieht.
Auch 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung bleibt Humanae vitae umstritten, enthält jedoch eine Botschaft, die zu beherzigen ist.
Martin M. Lintner,
Mitglied des Servitenordens, lehrt Theologische Ethik und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen
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