Kommt heraus aus euren Gräbern!
Vielleicht hätte ich dann verhindern können, was geschehen ist, weil ich anders gehandelt oder entschieden hätte? Wäre ich zu Hause gewesen, hätte ich den Arzt verständigen können. Wäre ich eine Minute später weggefahren, wäre der Unfall nicht passiert. Hätte ich dieses eine Wort oder diesen einen Satz nicht gesagt, wäre es nicht zu einem folgenreichen Konflikt oder Zerwürfnis gekommen!
Ich würde das manchmal gerne können: Die Uhr einfach ein Stück zurückdrehen, mit dem Wissen von Heute im Gestern eine Kleinigkeit anders und besser machen. Vielleicht hätte ich dadurch Leid, Schmerz, Kränkung oder Traurigkeit verhindern können.
Leider funktionieren solche Zeitverschiebungen nur in Science-fiction-Filmen oder mit dem Zeitumkehrer von Hermine Granger bei Harry Potter. In unserer Wirklichkeit müssen wir aber oftmals mit dem leben lernen, was geschehen ist, auch mit dem Schwierigen und Belastenden. Wir müssen daher auch mit Schuld und Versagen, mit Krankheit und Tod, mit Naturkatastrophen und – ja – nun auch wieder mit Krieg auf dem europäischen Kontinent leben lernen. Und wir müssen erkennen, dass wir nicht alle schicksalhaften Ereignisse und alles Leid verhindern können.
Wie aber gehen wir um mit dieser Einsicht, dass wir die Uhren eben nicht zurückdrehen können?
Das ist eine der großen Fragen, die sich für mich aus dem Evangelium des 5. Fastensonntages - auch Passionssonntag genannt - ergeben. Es ist die bekannte Geschichte von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-45). Maria und Marta hätten die Zeit wohl auch gerne zurückgedreht. Wäre Jesus doch schon einige Tage früher gekommen!
Die Zeit, in der wir leben, mit ihren vielfältigen Krisen, kann uns bisweilen schon ziemlich mutlos machen. Ich denke da an die sich zuspitzende Klimakrise, die Coronakrise, die nun endlich überwunden zu sein scheint, aber doch große Spannungen und Zerwürfnisse in unserer Gesellschaft hinterlassen hat. Ich denke an das unermessliche Leid im Ukrainekrieg, an die damit eng zusammenhängende Teuerungskrise und Inflation, an die Vertrauenskrise in die Politik – überhaupt an den weit verbreiteten Pessimismus, was eine gute Zukunft für uns Menschen auf dieser Welt betrifft.
Insgesamt eine wirklich schwierige Gemengelage, die Anlass zu berechtigten Sorgen und Ängsten gibt. Sind die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirklich die „last generation“, die letzte Generation, die noch unter halbwegs guten Bedingungen auf dieser Welt leben kann?
Nun, können wir diesem Zeitbefund etwas entgegenstellen, eine positive Zukunftsvision, eine Hoffnung und Zuversicht, dass es für uns Menschen trotz allem gut weitergehen kann?
„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“
Vor kurzem ist mir ein Gedanke des Dichters und Denkers Friedrich Hölderlin untergekommen. Er schreibt: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“. Dieser Gedanke tröstet mich wirklich sehr. In eine ähnliche Denkrichtung führt uns auch die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus.
Da kommt es zur Konfrontation mit Schmerz, Leid und Tod. Und wir rücken damit schon sehr nahe an die Thematik der Karwoche. In dieser Geschichte wird das Sich-Auseinandersetzen mit den „Schatten des Todes im Leben“ als ein sehr emotionaler, gefühlsbetonter Prozess beschrieben. Wir können die Grenzerfahrungen und Grenzfragen unseres Lebens eben sehr häufig nicht mit unserem Denken, mit dem Kopf lösen oder auflösen.
Das Helfende, Rettende geschieht hier vor allem in einem Beziehungsgeschehen: im Gespräch, in der Zuwendung, in der Berührung, im Mitgefühl.
Auch Jesus - der Sohn Gottes, der Heiler, Retter und Erlöser! - steht hier nicht über den Dingen, vielmehr ist er zutiefst innerlich betroffenen und weint - angesichts des Todes seines geliebten Freundes Lazarus und angesichts der Trauer und Verzweiflung der beiden Schwestern des Lazarus, Marta und Maria, denen er ja genauso nahesteht wie dem Lazarus.
Diese Geschichte von der Auferweckung des Lazarus ist sehr reichhaltig und tief und bietet ganz viele Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken. Ich konzentriere mich aber vor allem auf den Schluss dieser Geschichte.
Über die Bildsprache des Evangeliums
Mir ist aufgefallen, dass wir dort auf drei große Aufforderungen Jesu treffen, die uns alle einen Anstoß geben wollen, Resignation und Hoffnungslosigkeit zu überwinden und uns zum Leben hin zu orientieren. Diese drei Aufforderungen sind:
- Wälzt den Stein weg!
- Lazarus, komm heraus!
- Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen!
In dieser Bildsprache steckt für mich ein tiefer symbolischer Gehalt. Es geht hier um eine Grundbewegung. Diese heißt: Kommt heraus aus den Gräbern! Aus den Gräbern der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der Verzweiflung!
Und diese Grundbewegung führt von der Erstarrung in die Bewegung, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern und Horizonten. Nicht der Tod - und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod - sind das Letzte. Wo wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende. Wo wir nicht mehr weiterwissen, fängt Gott erst an. Wo wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch alles möglich.
So wird der Tiefpunkt zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung. Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben. Wir merken, dass in dieser Geschichte von der Auferweckung des Lazarus schon das Licht von Ostern durchschimmert.
Interessant ist auch die Bedeutung des Namens „Lazarus“. Dieser Name bedeutet übersetzt „Gott hat geholfen“. Mich bringt das dazu, mich selber zu befragen: Wie schaut es eigentlich aus mit meinem Vertrauen in die Hilfe Gottes?
Mein Tun und das Mitwirken der Anderen
Und noch etwas ist mir aufgefallen: Um zum Leben zu kommen, braucht es wesentlich mein eigenes Tun. Ich muss aufstehen, ich muss mich auf meine Beine stellen, ich muss mich trauen, dem Ruf Jesu zu folgen.
Und zugleich braucht es auch das Mitwirken und die Hilfe von anderen, weil ich vielleicht manchmal zu sehr in mir gefangen bin: andere, die helfen, meinen Stein wegzuwälzen, die mir helfen, das zu lösen, was mich fesselt, bindet oder einengt!
Wir alle sind also immer auch aufeinander angewiesen und werden aufeinander verwiesen, uns gegenseitig dabei zu helfen, mit Vertrauen ins Leben zu gehen und in eine zuversichtliche Lebensgestaltung zu finden.
Leben aus der Kraft der Verantwortung
Das heurige Jahresthema der Katholischen Männerbewegung ist „Die Kraft der Verantwortung“. Vielleicht liegt unsere Verantwortung ja gerade darin, das Vertrauen ins Leben zu stärken, miteinander mit Hoffnung und Zuversicht unterwegs zu sein, die Gewissheit und das Zutrauen in uns zu stärken, dass wir etwas Positives beitragen und bewirken können, den Glauben in uns zu nähren, dass es für uns Menschen eine gute Zukunft geben kann und gibt.
Zur tatkräftigen Umsetzung dieser Verantwortung hilft uns eine göttliche Kraft, die in uns ist. Die beiden Lesungen des Passionssonntages (Ez 37,12b-14 und Röm 8,8-11) sprechen vom Geist, der in uns wohnt und den uns Gott gegeben hat. Diese Geistkraft bewirkt, dass wir uns auf unsere Füße stellen, dass wir lebendig sind und werden und dass wir – an dem Ort, an dem wir sind und leben – einen wertvollen Beitrag liefern können, der dem Leben dient.
Zum Schluss die Botschaft dieses Sonntags auf den Punkt gebracht: GEH HERAUS AUS DEINEM GRAB und GEHE HINEIN INS LEBEN !
Mag. Wolfgang Bögl, Theologischer Assistent der KMB Linz