Weihnachten – eine Bewegung des Herzens
Es ist schwer zu begreifen und es ist wohl keine Sache des Verstandes, die man nüchtern erklären könnte. Ich denke, wir brauchen auch gar nicht mit unserem Verstand zu grübeln, wie das denn wirklich war mit der Geburt Jesu.
Die biblischen Weihnachtserzählungen sind nämlich keine objektiven Tatsachenberichte, sondern vielmehr treffen wir hier auf eine Sprache, die etwas anderes ansprechen will als unseren Verstand. Eine Sprache, auf die wir auch in den Träumen, Märchen oder Mythen treffen.
Seit alters hat die Kirche das Geheimnis der Menschwerdung Gottes in vielen Bildern ausgedrückt. Und Bilder sind wohl auch eher geeignet als theologische Spekulationen, die zwar den Verstand befriedigen, das Herz aber unberührt lassen.
Daher ist es wohl auch so, dass wir diesem Geheimnis von Weihnachten wohl nicht wirklich nahe kommen, wenn wir uns nicht in unserem Herzen, in unserem Inneren anrühren lassen. Erst dann können wir spüren, was es heißt: Gott wird Mensch, unser Leben wird verwandelt. Ein neuer Anfang geschieht. Die Nacht, unsere Nacht, wir auf einmal hell. Engel singen ihre Lieder.
Die Theologie spricht von der Menschwerdung Gottes, von der Gottesgeburt. In der Bibel hören wir von der Geburt eines göttlichen Kindes. Dieses Motiv taucht in vielen der großen Mythen und Religionen der Menschheitsgeschichte auf.
Ich möchte mich diesem Bild von der Geburt aber möglichst konkret und wirklichkeitsnah nähern. Selber habe ich es ja auch schon vier Mal erlebt, wie das so ist bei einer Geburt und wie man das als Vater erlebt und fühlt.
Gebären heißt: das Innerste nach außen kehren
Im Buch einer Hebamme habe ich den Satz gelesen: „Gebären heißt: das Innerste nach außen kehren.“ Ich denke, mit diesem Satz ist die zentrale Botschaft von Weihnachten ausgesagt!
In der Geburt des Gottessohnes kehrt Gott sein Innerstes nach außen, er gibt uns etwas von seinem Innersten. Und lässt uns sozusagen in sein Innerstes schauen. Und ich denke und ich spüre, dass es wohl so eine Erfahrung sein muss, wie wenn man ein neugeborenes Kind in den Händen hält - ein Erleben von Ehrfurcht und Staunen, ein Überwältigtsein vom Wunder des Lebens.
Der große Gott zeigt sich in einem kleinen, hilflosen und angewiesenen Kind. Er trägt einen menschlichen Namen, ein menschliches Gesicht. In Jesus wird Gott ganz Mensch und in dem, wie Jesus ist und was er tut, wird deutlich, wie Gott in seinem Innersten ist.
Von besonderer Bedeutung und Aussagekraft sind aber sicherlich auch die Umstände, unter denen dieses göttliche Kind geboren wird. Im Evangelium sind uns diese Umstände beschrieben.
Ein überraschender Gott, den uns das Christentum anbietet
... einen Gott, der nicht zuerst dort zu suchen ist, wo die ganze Religions- und Kulturgeschichte ihre Götter immer angesiedelt hat: nämlich im Strahlenden, Hellen, im Lichtglanz, bei Kraft und Stärke.
Das kennen wir vom biblischen Gott zwar auch. Aber dieser lässt sich gerade auch im Niedrigen, Armseligen, Gebrechlichen finden - auch im Gewöhnlichen, Unvollkommenen und Mittelmäßigen - ja in allem, was wir leicht übersehen oder zumindest nie mit ihm in Verbindung bringen würden.
Gott kommt in bitterer Armut zur Welt und er erscheint zuerst unter den Armen. Die Hirten, eine soziale Randgruppe, sind es, die als erste die Frohe Botschaft verkündet bekommen und die sie dann auch weitererzählen.
Die Hirten sind damals eher gering geschätzt worden. Sie haben sich nicht an die religiösen Vorschriften und Gesetze gehalten oder besser gesagt: sie konnten sich gar nicht daran halten aufgrund ihrer Lebensumstände. Und die Hirten haben auch keine bürgerlichen Ehrenrechte besessen: sie durften vor Gericht nicht Zeugen sein und waren für Ehrenämter nicht wählbar. Und nun sind es gerade die Hirten, die als erste angesprochen werden und die die ersten Zeugen der Menschwerdung Gottes werden! Aus einer tiefenpsychologischen Deutung des Weihnachtsevangeliums habe ich den Hinweis entnommen, dass die Hirten hier auch für die dunklen und abgespaltenen Anteile in unserer Seele stehen, oder auch für das Abgelehnte, Dunkle, Anrüchige und Abgespaltene in der Gesellschaft.
Die Hirten sind es, die auch im Dunkel ausharren müssen, die in der Nacht wachen müssen. Im übertragenen Sinn sind sie diejenigen, die mit der Nacht, mit dem Dunklen und Geheimnisvollen des Lebens vertraut sind. Sie trauen sich in die Nacht. Deswegen sind sie wohl auch besonders hellhörig für erlösende und lebensfreundliche Botschaften.
Gott kommt in das Dunkel des Lebens
Gerade in diese Dunkelheit kommt Gott. Zu dieser Dunkelheit sagt er JA. Weihnachten ist ein Fest in der Dunkelheit. Und wir begreifen es nicht, wenn wir nicht auch unser eigenes Dunkel annehmen: unser Leiden, unsere Schwächen, unser Scheitern, unsere Schuld. Erlösung ereignet sich in der Bibel sehr oft in der Nacht, im Dunkel (Weihnachten und Ostern!).
So zeigt uns Weihnachten auf, wie wir wahrhaft Mensch werden können. Der Weg der Menschwerdung ist ein Weg nach unten und ein Weg nach innen. Wenn wir diesen Weg gehen, dann treffen wir immer auch auf unsere Bedürftigkeit und auf unser Dunkel. Doch gerade dorthin strahlt auch dieser göttliche Schimmer, in dessen Licht wir unsere Schätze und Perlen entdecken können.
Wenn daher zu Weihnachten die Geburt des Lebens gefeiert wird, wenn es wirklich die Geburt des Lebens schlechthin ist, und wir dadurch Mut zum Leben bekommen sollen und dürfen, dann ist es notwendig, dass wir das Ganze des Lebens im Blick haben.
Zu Weihnachten kommen die Licht- und die Schattenseiten des Lebens zur Sprache
Denn auch schon in den biblischen Berichten von der Geburt Jesu kommen beide Seiten zur Sprache. Von Anfang an nämlich steht auch schon die Bedrohung über diesem göttlichen Leben.
Da ist das göttliche Kind - und die bittere menschliche Armut.
Da ist die neue Geburt - und der Mordbefehl des Herodes.
Da ist die liebevolle und warme Szene im Stall - und die Flucht nach Ägypten.
Da ist das Erscheinen der Engel - und die Heimatlosigkeit in der Verfolgung.
Da ist die himmlische Botschaft vom "Heiland der Welt" - und eine eigentlich ja sehr tragische menschliche Geschichte.
Schon in den Kindheitserzählungen Jesu wird deutlich: das verheißene Kind ist vom Anfang an auch das gefährdete Kind. Das trifft auch eine Realität unseres Lebens, nämlich dass unser Glück, unser Heilsein und Ganzsein immer auch bedroht sind.
Kein Fest zeigt heute stärker die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit auf wie das Weihnachtsfest. So kann es zu einer großen Enttäuschung werden, wenn man es zu sehr mit dem Ideal einer heilen Welt befrachtet, die da auf einmal herrschen soll.
So liegt in dieser biblischen Weihnachtsbotschaft eigentlich eine ungeheure Entlastung: wir brauchen uns an diesem Fest nichts vorzumachen, wir brauchen keine Fassade. Nein, da können wir, so wie wir sind, vor dieses göttliche Kind hintreten und spüren, dass wir von Gott angenommen, beschenkt und geliebt sind.
Weihnachten wird der Realität unseres Lebens gerecht
Ich denke, es ist genau das, was uns so berühren darf an diesem Weihnachtsfest, dass es so voll und ganz der Realität unseres Lebens gerecht wird. Und diese Bilder der biblischen Weihnachtserzählungen, die sprechen unsere Sehnsucht an, unsere Ängste und Nöte, unsere Hoffnung und unsere Enttäuschung, unseren Glauben und unseren Zweifel - UND sie wollen vor allem auch unsere Ahnung von einer anderen Welt ansprechen, die in unsere Welt einbrechen und sie verwandeln möchte. So erleben wir Weihnachten dann als eine Bewegung des Herzens.
So wünsche ich uns allen, dass uns die Bilder von Weihnachten an die Wirklichkeit unseres Lebens führen, dass sie in uns die Hoffnung wecken oder wach halten, dass da eine andere, eine göttliche Wirklichkeit hereinbrechen kann in unser Leben, dass wir uns in unserer tiefen Sehnsucht berührt fühlen. Denn die Botschaft von Weihnachten ist das Angebot unseres christlichen Glaubens auf unsere Sehnsucht nach einem ganzen und erfüllten Leben.