Sind wir nicht alle Pilgernde in unserem Leben?
Sind wir nicht alle Pilgernde in unserem Leben?
In diesem Sinne: Liebe Pilgergemeinschaft!
In den letzten drei Wochen hatte ich Urlaub. Wir verbrachten einen Großteil der Zeit in den Bergen, meistens zu sechst, für einige Tage aber nur mein Mann und ich. Wir waren 3 Tage unterwegs ohne Hütte, nur mit Schlafsack und Isomatte. Das, was wir brauchten, hatte in unseren Rucksäcken Platz. Wir waren den ganzen Tag auf den Füßen, staunten über die Felsformationen, Himmelsstimmungen und die spärliche, aber farbintensive Flora des Toten Gebirges, und auch über die Gämse in ihren Kleinfamilien. Etwas unerwartet begann es eines Nachmittags zu regnen. Es schien, als müsste unsere geplante zweite Nacht im Freien möglicherweise durch eine Hüttennacht ersetzt werden. Trotzdem gingen wir weiter, in eine andere Richtung als die zur Hütte. Auf einen Gipfel zu, den wir eigentlich an diesem Tag gerne noch bestiegen hätten, was bei diesem Wetter aber unvernünftig erschien. Etwas in uns wehrte sich, das abendliche Einschlafen mitten in der Bergkulisse, den nächtlichen Blick auf Sterne, Mond und Wolken, diese ganz besondere Stille – als lägen wir mitten in Gottes Wohnzimmer – und das durchs morgendliche Dämmerlicht bedingte Aufwachen durch eine Nacht im Innenraum auszutauschen. Also wurden wir nass und nässer. Wir suchten nach einem Unterschlupf unter einem Felsdach und versuchten uns und unsere Sachen zu trocknen. Als es aufhörte, gingen wir weiter, auf besagten Gipfel zu. Die Wolken stiegen auf und nahmen Farben in Rot- und Lilatönen an. Wir sagten uns, wir würden mal weiter schauen, vielleicht komme uns ja doch noch ein geeigneter Draußen-Schlafplatz unter – für den Gipfel wären wir eigentlich schon zu müde. Und wir gingen weiter. Bis wir am Gipfel waren. Und staunten. Über sagenhafte, geheimnisvolle Himmelsstimmungen. Über die Sonne, die still das Ausfransen, Aufsteigen, Auflösen der Wolken mit ihrem abendlich-sanften Licht begleitete. Glücksgefühle, Umarmungen, ein Gipfelkuss und so manche Fotos folgten – unser Beitrag zum Geschehen. Wir fühlten uns als Teil davon, als Teil dieser himmlischen Geschichte da über, unter und rund um uns.
Wehmut beim Abstieg ins Tal. Es ist die Rückkehr in eine sichere Welt. Und zugleich das Zurücklassen einer ganz besonderen Freiheit, eines Entledigt-Seins vom Zuviel von da unten, das den Blick auf das Wesentliche oft verstellt. Und in dieser Wehmut finde ich die Sehnsucht nach genau dem, was Jesus da heute gesagt hat: „Verkauft euren Besitz und gebt Almosen! (…) Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst! Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“
Dieses geschilderte Erlebnis lässt wie sicher viele ähnliche Erlebnisse von Ihnen, liebe Zuhörende und Mitbetende, eine Ahnung entstehen von dem, was Jesus mit diesem „Schatz im Himmel“, der von keinen Dieben gefunden und auch nicht von Ungeziefer aufgefressen werden kann, gemeint sein kann.
Er spricht davon, dass wir uns sicher sein können, dass Gott uns sein Reich zur Verfügung stellen wird. Aber wie können wir uns sicher fühlen, wenn wir jeden Besitz, also wenn wir unser sicheres Haus samt Haushaltsversicherung, das sichere Auto samt Sicherheitsgurt, unser Handy samt Sicherheitstastensperre… verkauft haben?
Was ist das für ein unsicheres Leben, das er uns als Voraussetzung für das Finden dieses himmlischen, ewigen Schatzes abverlangt? Vielleicht geht es ihm einfach um eine andere Sicherheit als WIR meinen, wenn WIR an Sicherheit denken. In mehreren Bildern sagt er:
Wir können uns sicher sein, dass, aber nicht sicher sein, wann Gottes Reich kommt. Möglicherweise ist es schon da. Wir sind nur gerade damit beschäftigt, uns Sicherheit zu verschaffen, indem wir planen, Einkommen anhäufen und sparen für später, Versicherungsverträge abschließen, Träume vergessen und die Verwirklichung gewagter Ideen abschreiben, die immer gleiche Partei wählen, uns immer mit den gleichen Menschen umgeben, uns mehr an anderen Kulturen und Denkweisen stoßen als interessieren, stets den gleichen Weg in die Arbeit fahren. In der Aufrechterhaltung unseres besitzenden Lebens bleibt kaum Zeit, uns umzuschauen.
„Eure Hüften sollen gegürtet sein und eure Lampen brennen“
Wenn in der Bibel von gegürteten Hüften gesprochen wird, meint das, dass wir unser Gewand so hochgebunden haben sollen, dass es nicht zu Boden hängt – es könnte uns sonst im Gehen behindern. Wir sollen uns also auf den Weg machen. Und das Brennen der Lampen erinnert uns an die 10 Brautjungfrauen aus dem Matthäus-Evangelium: Ihre Lampen müssen betriebsbereit sein für die Ankunft des Bräutigams. Das Brennen der Lampen steht also für die Betriebsbereitschaft unserer Sinne. Mutiges Drauflosgehen, wache Sinne und rege Aufmerksamkeit werden also von uns gefordert. Nicht umsonst stellt der Effata-Ritus einen fixen Bestandteil der christlichen Taufe dar: Es geht ums Öffnen der Sinne für Gottes Ankunft mitten in unserem Leben.
Die Entscheidung, nicht Richtung Hütte zu gehen, war eine Entscheidung des Herzens und zugleich eine der Unsicherheit. Die Nacht hätte recht unbequem werden können, wäre es regnerisch geblieben. Es hätte auch anders ausgehen können, ja. Einprägsam war aber auch diese gesteigerte Aufmerksamkeit durch dieses unsichere Wetter und durch die Suche nach einem Schlafplatz – eine der wenigen kleinen Grasflecken musste dann übrigens als solcher herhalten. Uns war nicht besonders warm und auch die auf unseren Schlafsäcken kondensierte Feuchtigkeit machte uns zu schaffen. Wir hatten dadurch viel Zeit zum Bewundern der Tausend Sterne da oben, die uns ungetrübt entgegen leuchteten…
Unsicherheit steigert unsere Aufmerksamkeit für das, was jetzt gerade wichtig ist. Und: Unsicherheit steigert unsere Aufmerksamkeit für das Einzige, was wirklich sicher ist: Dass Gott uns mitten in unserem Leben erwartet. Vielleicht morgen. Oder heute schon. Oder jetzt gerade?
Ich möchte nicht sagen, dass wir unser gutes Leben hier leichtfertig aufgeben sollen. Das entspräche wohl nicht dem, was Gott von uns will. Er möchte, denke ich, dass wir uns in unserem in unserem geschenkten Leben als Pilger*innen erfahren, um in unserer so gewonnenen inneren Freiheit den Ruf unseres Herzens besser vernehmen und dem Weg folgen können, den uns Gott zu Füßen legt.