Nehmt euch in Acht!
„Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten!“ –
Warum geht Jesus so scharf ins Gericht mit der Zunft der Schriftgelehrten? Was stört ihn? Was ist so gefährlich an ihnen, dass man sich in Acht nehmen muss?
Der zentrale Vorwurf, den Jesus den Schriftgelehrten macht, ist: sie sind Fachleute, ohne Zweifel, aber ihr Herz ist nicht bei der Sache.
Kleinliche Prinzipienreiter sind sie,
Gesetzeshüter, die die Menschen schikanieren mit allerlei Vorschriften, an die sie sich selbst aber nicht halten.
Die Gebote kennen sie, aber Herz haben sie keines.
Die Not, die einen Menschen zur Verzweiflung führen kann, die berührt sie nicht.
Verständnis, Einfühlungsvermögen oder gar Erbarmen - kennen sie nicht.
Schaut sie euch an - sagt Jesus - wie sie daherkommen in ihren langen Gewändern, eitel und selbstgefällig sind sie, außerdem gierige Schmarotzer, die sich bereichern auf Kosten anderer.
Nehmt euch in Acht vor diesen Menschen.
Ehrlich gesagt: So ganz wohl ist mir dabei nicht, wenn ich dieses Evangelium vorlese. Denn wenn ich mich so umschaue - der einzige in „langen Gewändern“ bin eigentlich ich - von den Ministranten einmal abgesehen.
Ich habe Theologie studiert. Ich gehöre also auch zur Zunft der „Schriftgelehrten“. „Ehrenplätze“ werden mir auch hin und wieder angeboten, dass ich „Witwen um ihre Häuser bringe“ – also das möchte ich mir wirklich nicht nachsagen lassen.
Aber im Ernst: wenn Jesus warnt vor den „Schriftgelehrten“, vor ihrer Scheinheiligkeit, ihrer Geltungssucht, ihrer Habgier, dann kann ich nicht so darüber hinweggehen, als ging mich und meinesgleichen das nichts an. ich nehme es schon ernst.
Es wäre zu billig und unfair, mit dem Finger auf diesen oder jenen zu zeigen und zu sagen: Das ist so einer in „langen Gewändern“, eine von „dieser Sorte“ – aber ich doch nicht.
Ich meine in jedem von uns kann er stecken, der „Schriftgelehrte“, der lieblose „Besserwisser“, der kleinliche „Prinzipienreiter“, der ehrsüchtige „Wichtigtuer“, der gierige „Ausbeuter“, der sich in seiner zur Schau gestellten „Scheinheiligkeit“ über alle anderen erhaben fühlt.
„Nimm dich in Acht!“ – vor dem „Schriftgelehrten“ in dir selbst. - (Wir kennen das ja: „Wenn du mit deinem Finger auf jemanden zeigst – drei Finger zeigen auf dich!“
Die Gefahr besteht für uns alle, dass unsere Lebenseinstellung verkommt und zu einer herzlosen und lieblosen Angelegenheit wird.
Was Jesus kritisiert ist die Haltung: die Scheinheiligkeit, die Unehrlichkeit überhaupt. Wenn „außen“ und „innen“, nicht mehr zusammenstimmen, in uns, dann wird es schlimm.
Nicht zufällig hat dieses heutige Evangelium eine zweite Hälfte.
Sind es auf der einen Seite die hochgelehrten, selbstherrlichen Besserwisser“, vor denen Jesus warnt, so lobt er auf der anderen Seite - als Gegengewicht sozusagen - diese einfache Frau, eine Witwe – die bereit ist „alles“ zu geben.
Was für Jesus zählt ist nicht das zur Schau getragene „Besser sein“, die Überheblichkeit, der „Schein“ - für ihn zählt das „Sein“, das Herz, die Großzügigkeit des Handelns, und - wie bei dieser einfachen, armen Witwe -die angstlose Weite des Vertrauens
Sie, die nichts besaß - außer vielleicht ein paar Kinder, für die sie sorgen musste. Sie, die wusste, was es bedeutet zu beten: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ - sie
war im Stande: mitleidig zu sein und mitfühlend.
Sie kann alles geben - ohne Angst - weil sie sich
getragen weiß im Grunde ihres Seins, weil sie ein kindliches Vertrauen kennt.
Menschen von dieser Art - weitherzig und großzügig und voll Vertrauen - fühlt sich Jesus verwandt.
Ihnen ist Gott nahe.