"Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich" - Allerheiligen
„Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich". In einer wörtlicheren Übersetzung steht: „Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel" (Elb.) –
Dieser Satz der Seligpreisungen Jesu ist mir zuerst unverständlich.
Bei weiteren Nachforschungen erschließt sich der Sinn. Es gab in Israel in dieser Zeit eine eigene "Armenfrömmigkeit", die sich daher entwickelte, da diese Armen in ihrer Not gezwungen waren, ihr ganzes Vertrauen auf Gott zu setzen. Und das konnten und können arme Menschen sehr gut, so zumindest habe ich es schon oft erlebt. Menschen, die wenig finanzielle Möglichkeiten haben, Menschen, die in schwierigen Lebenssituationen stecken, die sie selbst kaum zu ändern vermögen, diese Menschen zeigen oft ein sehr großes Vertrauen in Gott. Er ist ihr letzter Halt, der Ankerpunkt ihrer bleibenden Zuversicht, die das Bejahen ihres Lebens letztendlich doch noch möglich macht.
Diese Armut vor Gott, möglicherweise ist es diese Armut, die eine gewisse Demut bedingt, die aus der Erkenntnis heraus entsteht, dass man selbst nicht alles regeln kann und auf die Hilfe und das Dableiben Gottes angewiesen ist.
Eine Erfahrung von mir: 1. Klasse Gymnasium. Ein Mädchen in unserer Klasse war sehr groß gewachsen, etwas fester, hatte in der Klasse nicht wirklich Freunde, war ein großer Pferdefan, auf Grund dessen sie oft belächelt wurde. Eines Schultages wurde sie in der Turngarderobe von einigen Mitschülerinnen von uns gehänselt, eine nahm ihr ihre Geldtasche weg und warf sie einer anderen Mitschülerin zu. Es entstand daraus ein Spiel mit viel Gekicher der Geldtaschen-werfenden Mitschülerinnen und einem erbosten Hin und Her-Laufen des besagten gehänselten Mädchens. Nach einiger Zeit tat sie mir sehr Leid. Ich mischte mich ein und bat die Anderen damit aufzuhören.
Einige Tage später bekam ich von einer Freundin, die auch in dieselbe Klasse ging und bei dem Hänselspiel dabei gewesen war, einen Brief, in dem sie mich zynisch fragte, ob ich denn „Friedensnobelpreisträgerin" werden wolle.
Ich war aus dem Freundeskreis der Briefschreiberin herausgeflogen. Zumindest für einige Zeit. Das Ganze beschäftigt mich bis heute.
Immer wieder, wenn ich den Wunsch verspüre, mich in Konflikte einzumischen, fällt mir diese Szene ein. Manchmal bremst mich diese Erinnerung aus.
Teresa von Avila sagt in ihrem Gebet „Hilf mir die Dinge auf den Punkt zu bringen")
Erlöse mich von der
großen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer
regeln zu wollen.
Manchmal mische ich mich trotzdem ein. Dabei falle ich dann immer wieder auf die Nase. Ich sei übergriffig und selbstgerecht, wurde mir schon gesagt. Mir wird in meinem vermeintlich guten Handeln also Scheinheiligkeit – ein Handeln, das auf das Ansehen einer "Friedensnobelpreisträgerin" aus ist, ist schließlich eine Heiligkeit zum Schein – und Selbstgerechtigkeit vorgeworfen.
Mich treffen diese Vorwürfe. Vor allem der der Selbstgerechtigkeit, ja, der hat's in sich. Dieser tut noch mehr weh als die zynische Betitelung „Friedensnobelpreisträgerin".
Selbstgerecht zu sein, bedeutet sich selbst zu richten. Man kann sich aber nicht selbst richten. Man kann nach seinem Gewissen handeln, ob man dabei aber gut oder nicht gut handelt, das zu beurteilen liegt nicht in unserer Macht. Nur Gott kann das. Nur Gott, der alles von oben und innen und unten und außen zugleich sieht, nur Er oder Sie kann unser Handeln letztendlich in Gut oder Schlecht oder etwas Dazwischen einteilen. „Er richte die Lebenden und die Toten" – so sprechen wir es im Glaubensbekenntnis. Wir wissen, dass Gott es ist, der richtet, der geraderichtet, was man selbst auf krummen Zeilen schreibt.
Selbstgerecht zu sein bedeutet, an Demut zu mangeln. Man spricht sich selbst das letzte Urteil zu, erhebt sich damit über alle anderen Menschen, denkt sich selbst gottgleich. Das ist es wohl nicht, was heilig macht. Sich über Andere und die Hintergründe hinter deren Handeln zu stellen, bedeutet Hybris und im Endeffekt Selbstheiligung. Selbstgerecht ist, wer behauptet, auf geraden Zeilen zu schreiben, obwohl das Leben auf krummen Zeilen schreibt. Das kann nur Gott. Nur Gott heiligt.
Ja, wenn jemand von mir sagt, ich sei selbstgerecht, dann trifft das einen wunden Punkt. Denn manchmal blitzt in mir der Gedanke auf, ich sei da jetzt etwas Besseres gewesen als die Anderen. Ohne mich für ihre Geschichten hinter ihrem Handeln interessiert zu haben. Mein negatives Urteil über die Anderen hatte ich gefällt, meine positives mir gegenüber auch.
Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass ich mich irren kann.
Alle Heiligen wurden erst nach ihrem Tod heiliggesprochen. An dem Punkt, wo Gott Krummes, Verbogenes, schief Gegangenes schon gerade richten hatte können, erst dort konnten sie zu Heiligen werden. Das, was von diesen Menschen im Endeffekt, nach ihrem Tod blieb, das machte sie zu Heiligen. Und selten war dies ein Handeln, das dem Wunsch nach Ansehen und dem Wunsch, heiliger als Andere sein zu wollen, gerecht werden wollte. Vielmehr war es ein Handeln aus Gottes Liebe heraus. Ein Handeln, das vielleicht aus der eigenen Lebenserfahrung der Barmherzigkeit einem selbst gegenüber, stammt. Oder aus der Erfahrung der bedingungslosen Liebe. Oder der Vergebung der eigenen Schuld. Oder aus der großen Dankbarkeit um all das Schöne und Wohltuende und Liebevolle und Berührende im Leben. Aus der Dankbarkeit um unser Mensch- und Berührbar-Sein heraus. Vielleicht ist es das Handeln aus dieser im eigenen Leben verorteten und wahrgenommenen Gottesnähe heraus, das heilig macht. Denn hinter diesem Handeln steckt nicht Selbstgerechtigkeit und Lust auf Ansehen. Hinter diesem Handeln steckt eine alltägliche, lebensnahe Mystik. Und dieses Handeln geschieht im Licht Gottes.
Und ich denke, sogar, wenn etwas von diesen Antrieben der Ansehenslust und der Selbstgerechtigkeit zurückbleibt, auch wenn diese so menschlichen Antriebe irgendwo auch ein bisschen mitspielen in unseren guten Taten, ich denke, wenn wir uns dessen bewusst sind, über sie lächeln und uns so unserer Menschlichkeit bewusst geworden sind, ja, ich denke, dann richtet Gott diese krummen Zeilen gerade. Noch einmal möchte ich Teresa von Avilas an Humor reiches Gebet zitieren:
Angesichts meines großen Reichtums
an Lebensweisheit
scheint es bedauerlich,
nicht alles nützen zu können,
aber du weißt, Herr,
dass ich schließlich doch ein paar Freunde behalten möchte.
Ich denke, dass wir in unserem Sehen, Urteilen und Handeln (Das Prinzip SEHEN - URTEILEN - HANDELN ("See - Judge - Act") geht zurück auf die Lehre Kardinal Joseph Cardijns (1882-1967), dem Gründer der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ)) uns unserer Armut im Geiste bewusst sein sollten. So werden wir nicht zu selbstgerecht Handelnden, die sich innerlich selbst heilig sprechen, sondern sich ihrer Begrenztheit immer bewusst sind, und immer wieder neu Gott als ihren letzten Rechtsprecher anerkennen.
Ich denke, Allerheiligen ist der Tag in unserem Glauben, der uns mitten im Leben, jetzt mitten im Herbst, in der Zeit, in der Besinnlichkeit und Besinnung wieder den Raum in den sich ausbreitenden dunklen Stunden finden, an die Heiligkeit von bekannten und nicht bekannten Heiligen denken lassen möchte.
Welche heiligen Taten unserer Mitmenschen – ob schon verstorben oder noch lebend - sind uns in unserem Leben Vorbild?
Ist es der unermüdliche karitative Einsatz, den jemand für Menschen in Not aufbringt?
Ist es das offene Ohr, das jemand immer wieder einfach so schenkt?
Ist es der unerschütterliche Glauben an Gott, zu dem jemand trotz (oder wegen?) aller eigenen Nöte steht?
Ist es die Sorge und Pflege von Kindern, alten und kranken Menschen, die jemand Tag für Tag unter großen Mühen immer wieder auf sich nimmt?
Ist es der nicht zum Schweigen bringende politische Einsatz für die Menschenrechte, den Umweltschutz, die soziale Gerechtigkeit, den jemand als seine Aufgabe erkannt hat?
Ist es die unaufhörliche Suche nach Gott, in Dichtung, Musik, Bildender Kunst, auf die sich ein Mensch begeben hat?
Sind es die Armen, Trauernden, Gewaltlosen, nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Barmherzigen, und die mit reinem Herzen, die Frieden Stiftenden, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, die um Jesu Willen Beschimpften und Verleumdeten – wie sie im heutigen Evangelium, den Seligpreisungen, die am Beginn der Bergpredigt stehen, angeführt werden?
So Vieles könnte noch aufgezählt werden, was als heiliges Handeln betrachtet werden kann. Facettenreich und fantasievoll sind auch die Geschichten der uns bekannten Heiligen. Genauso facettenreich und fantasievoll sind die Lebenszeugnisse von Menschen um uns herum, die uns Vorbilder sein können. Lassen wir uns von ihnen inspirieren. Und bleiben wir dabei immer am heiligen Boden: Wir sehen, urteilen und handeln innerhalb unserer menschlichen Begrenztheit. Bleiben wir demütig und bitten wir Gott, uns den rechten Weg zu erkennen zu geben.
Und vergessen wir nicht darauf, immer auch den Humor ob unserer Begrenztheit walten zu lassen. Dieser bewahrt uns vor Selbstgerechtigkeit und legt unser Handeln getrost und vertrauensvoll in Gottes Hände.
Möge uns unser Schmunzeln über uns selbst nicht ausgehen.
Teresa von Avila:
Erhalte mich so Liebenswert wie möglich.
Ich möchte keine Heilige sein –
mit manchen von ihnen lebt es sich so schwer;
aber ein Griesgram ist das
Krönungswerk des Teufels.