Kleine oder große Wunder
Liebe Mitmenschen!
Wir alle haben schon kleine oder große Wunder vollbracht.
Ja, das mutmaße ich voller Überzeugung. So wie ich voller Überzeugung an die Wunder Jesu glaube.
Im heutigen Evangelium begegnen uns zwei ineinander verzahnte Heilungsgeschichten (die uns unsere jugendlichen Minis lebendig vorgetragen haben). In der ersten kommt der Synagogenvorsteher Jairus zu Jesus, seine zwölfjährige Tochter liege im Sterben. Am Weg zu ihr berührt ihn eine von den vielen Personen, die Jesus zu dem Mädchen folgen, um die erhoffte Wunderheilung zu sehen. Diese eine Berührung – und Jesus wurde in dem Gedränge von mehreren berührt – war ihm aufgefallen, denn er hatte eine Kraft aus ihm strömen gespürt. Diese eine Berührung stammte von einer Frau, die seit 12 Jahren – man beachte, dass sowohl die Tochter von Jairus 12 Jahre alt war und auch das Leiden der Frau seit 12 Jahren bestand – an Blutungen litt. Bei den Berührungen der Anderen hatte er dies nicht wahrgenommen. Jesus erinnert mich da an das physikalische Prinzip der kommunizierenden Gefäße. Werden zwei Gefäße miteinander verbunden, strebt die Flüßigkeit danach, den Wasserstand in beiden Gefäßen einander anzugleichen. Es fließt etwas vom gefüllteren ins leerere Gefäß ab. Es geht um Ausgleich – so haben wir es auch in der Lesung aus dem Korintherbrief gehört. Es geht darum, bereit zu sein, etwas von sich zu geben, wenn man genug hat. Dafür muss man aber berührbar sein, so wie Jesus.
Und tatsächlich: Das Leiden der Frau geht damit zu Ende. „Dein Glaube hat dich gerettet“, so Jesus. Damit sagt Jesus: Es geht nicht nur durch meine Heilungskräfte. Auch der leidende Mensch muss an eine Chance auf Heilung durch Berührung glauben, und muss Mut beweisen, sich dem Anderen gegenüber zu öffnen. Wie die blutende Frau ihre “ganze Wahrheit” erzählt und von ihrem Leiden berichtet, so sind auch wir gefordert, an richtiger Stelle von unserem Leid zu erzählen, wenn wir der Hilfe und der Heilung bedürfen. Ein großes Maß an Vertrauen und Glauben ist nötig. Dann, ja dann kann unser Glaube uns retten.
Heilung durch Berührung. Erkrankung durch Berührungsmangel – in Coronazeiten sind wir uns schmerzlich bewusst, dass die umgekehrte Kausalität auch oft wahr geworden ist oder wahr wird. Nicht oder nicht mehr berührt zu werden, macht uns krank. Ich denke, dass wir besonders jetzt, während wir den Weg heraus aus der Pandemie beschreiten, uns über die Bedeutung, die Berührung für uns ganz persönlich hat, Gedanken machen sollten. Mag ich es, berührt zu werden? Oder bin ich froh um dieses Weniger an Umarmungen und Wangenküssen und Händedrückern? Welche Form von Berührung tut mir gut, stärkt mich, erfüllt mich? Möchte ich andere Menschen berühren oder habe ich neue Wege, um Nähe aufzubauen, kennen gelernt? Kann ich Berührung heute bewusster wahrnehmen, fühlen und schenken als vor der Pandemie?
In der zweiten - möglicherweise noch aufregenderen Wundererzählung dieses Evangeliums – vollzieht sich Heilung auch durch Berührung - und durch einen weiteren Aspekt: Um einem Verständnis dieser Heilung näher zu kommen, bedienen wir uns besser einer wörtlicheren Übersetzung als der Einheitsübersetzung. Hierin wird das 12-jährige Mädchen im Laufe der Erzählung unterschiedlich bezeichnet – der bedeutendste Wandel vollzieht sich, als Jesus das Mädchen endlich erreicht: War die 12-Jährige bis dahin von den verschiedenen Protagonisten als “Töchterchen”, “Tochter”, “Kind”, “Mädchen” bezeichnet worden, spricht Jesus ab dem Zeitpunkt, an dem er ihre Hand ergreift, von der jungen Frau. “Talita kum” Mit diesen Worten bittet Jesus die junge Frau aufzustehen.
Jesus scheint wieder einmal in kürzester Zeit das dringendste Bedürfnis seines Gegenübers, dieser erkrankten jungen Frau erkannt zu haben: Es ging darum, ihr entsprechend zu begegnen, sie als die solche zu erkennen und zu benenne, zu der sie mittlerweile herangereift war: als Junge Frau – nicht mehr als Kind oder Mädchen. Ob Jairus Bezeichnung “Töchterchen” auf sein Versäumnis hindeutet, seiner Tochter die Entwicklung zur jungen Frau zuzugestehen, kann nur als gewagte Mutmaßung gelten. Möglicherweise ist diese Form der Verniedlichung nicht mehr angebracht.
Mit zwölf stehen Mädchen nach jüdischem Recht an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Als Elternteil nimmt man das Wachstum seiner Kinder oft weniger wahr als es Außenstehende tun. Ich wage zu behaupten – und dabei muss ich an meinen eigenen Blick auf unsere Kinder denken -, dass so manche kindliche Entwicklung gar nicht ins elterliche Bewusstsein dringt und wir Eltern so Gefahr laufen, unsere Kinder in für uns bequemen Entwicklungsstufen festzuhalten. Dahinter steckt wohl selten eine Absicht, doch bleibt es Versäumnis und deutet darauf hin, dass man den Fokus zu wenig auf das Bedürfnis des Kindes, sich weiterzuentwickeln, gelegt hat.
Wird einem jungen Menschen sein Erwachsenwerden nicht zugestanden, wird es geleugnet oder gar belächelt, kann dieser junge Mensch durchaus mit Krankheit darauf reagieren. Jesus sagt zum Schluss, man solle der jungen Frau etwas zu essen geben. Damit meint er Nahrung, aber wahrscheinlich auch Nährendes, das ihr Erwachsenwerden fördert, bestaunt, wertschätzt.
Die 12-jährige junge Frau in der Geschichte braucht wohl hier den außenstehenden und sehr sensiblen und aufmerksamen Jesus, um ihren Lebenswillen, ihre Wertschätzung sich selbst gegenüber, ihren Stolz über ihr Frau-Werden wiederzufinden.
Zwei Heilungsgeschichten, in denen zwei Frauen von Jesus gerettet werden. Die Frau aus der Menge, die seit 12 Jahren blutete, eine nicht heilende Wunde in sich trug – endlich wird diese weibliche Wunde gesehen und das Bluten gestillt, da Jesus sich von ihr berühren ließ - Diese Frau darf nun wieder den weiblichen Zyklus an sich erfahren. Eine Heilung der Berührung, gelungen durch die Berührbarkeit Jesu und den Glauben der Frau. Die zweite Geschichte, die der 12 jährigen jungen Frau, eine der Entwicklungsförderung, gelungen durch die Wertschätzung und achtsame Begleitung jugendlich-weiblicher Entwicklungsprozesse - eine Geschichte des Frau-Werdens und es Eintretens in den weiblichen Zyklus.
Jesus berührt nicht nur. Jesus lässt sich in der Berührung etwas vom anderen Menschen erzählen. Er lässt die Berührung sprechen.
Dieses Evangelium gibt Anhaltspunkte, wodurch auch wir schon Wunder vollbracht haben und weiterhin vollbringen können:
Berührbar sein, bewegbar durch die Wirklichkeiten unserer Mitmenschen, empathisch und sensibel für ihre Bedürfnisse.
Und offen für die Weiterentwicklungen unserer Mitmenschen, besonders unserer Kinder, die von Kindern zu Jugendlichen zu Erwachsenen werden wollen und dann eine Begegnung auf Augenhöhe mit uns erleben wollen.
Wir alle haben uns gegenüber anderen Menschen und ihren Geschichten, ihrem Leid, ihren Tränen berührbar gemacht, haben uns bewegen lassen, waren mit offenen Ohren für sie da und haben ihnen eine Hand auf der Schulter oder auch eine Umarmung oder auch einen verstehenden und somit berührenden Blick geschenkt – damit haben wir kleine oder große Wunder vollbracht, ein Stück Heilung ermöglicht. Machen wir weiter damit. So vollbringen wir Wunder, für die anderen und auch für uns selbst.
Amen.