Dienstag 30. April 2024
Pfarre St. Radegund

Da berühren sich Himmel und Erde

Erinnern oder Vergessen

 

Vergiss es! So kann man es häufig von jungen Menschen hören. D.h. es lohnt nicht, sich zu ärgern, es lohnt sich nicht, Gedanken für etwas zu verwenden. Es lässt sich nicht ändern.

Oder auch: Es war nicht so gemeint. Manches muss man einfach vergessen, weil es keinen Sinn macht. „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr.

 

Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel- zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die „überflüssig” gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können?

 

Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstsorten und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig.“ (Erich Kästner, Absprache zum Schulbeginn)

 

Kluge Zeitbeobachter - wie jüngst Peter Sloterdijk in seinem Buch über die „schrecklichen Kinder der Neuzeit“[1] - kommen bei ihren Analysen zum Schluss, wir würden unser eigenes Leben mehr oder weniger zerstören, weil wir die Beziehung zu unseren Wurzeln, zu den Grundelementen unserer Identität abschneiden, weil jeder meint, sich individuell neu erfinden zu müssen. Dagegen fordert Bildung, sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was mich prägt, mich kulturell sozialisiert hat.

 

Die andere unverzichtbare Grunddimension von Bildung ist allerdings Zeitgenossenschaft, der Austausch mit meinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Wenn ich viel über meine geschichtlichen Prägungen weiß, aber sozusagen in einem Turm ohne Fenster sitze, bin ich nicht wirklich gebildet. Diese beiden Dimensionen von Bildung befruchten sich gegenseitig, unabhängig davon, wie ihr Miteinander strukturiert ist, bei jedem von uns sicher in unterschiedlicher Mischung.

 

Nicht nur für Oldies und Gruftis werden bei Geburtstagsfeiern biographische Stationen durch Fotos, Bilder, Symbole, Erinnerungsgegenstände gegenwärtig. Zur Lebensgeschichte gehört es, die Erinnerung wach zu halten. Wer alles vergisst, hat höchstens eine Fleckerlteppich-Identität, wird treulos und ein unverbindlicher Hüpfer von einem ‚event’ zum anderen. -

 

In den letzten beiden Jahren habe ich oft erlebt, wie wichtig Feste und Jubiläen für einzelnen Personen, aber auch für Gemeinschaften, Vereine und Gemeinden sind. Da geht es um die Erfahrung von Lebensfreude, von Lebensmut, von Dazugehörigkeit und Heimat: Du kannst etwas, wir brauchen dich, du gehörst dazu!

 

Wen meinen wir, wenn wir „Wir“ sagen?

„Wir“ sind jetzt 875 Jahre hier. So habe ich es bei einem Jubiläum eines Klosters (St. Georgenberg-Fiecht in Tirol gehört. Das „Wir“ umfasst die Generationen über Jahrhunderte hinweg, es schließt viele ein, die man nicht einmal mit dem Namen kennt. Das „Wir“ ist eine Solidargemeinschaft in schweren Phasen der Geschichte, eine Schicksalsgemeinschaft und auch eine Gebetsgemeinschaft. – Wann sagen wir „Wir“ und wen meinen „wir“ damit?

 

„Habe ich Freunde unter den Toten?“, wie Max Frisch in seinen Tagebüchern einmal die Frage stellt. Wie steht es mit meiner Erinnerungskultur. Und welche Erinnerungskultur wünsche ich mir für mich selbst, wenn ich zu den Toten gehöre? Ich bin der Kirche dankbar, dass sie in jedem Gottesdienst der Toten gedenkt, dass sie Raum schenkt, sie beim Namen zu nennen und im Gedächtnis zu bewahren und auch mich daran erinnert, dass mein Lebensweg einmal zu Ende geht.

 

Und ich weiß, wenn wir alle längst zu den Toten gehören, wird die Kirche, auch wenn es für viele altmodisch erscheint, für uns Tote beten und in das Gedächtnis Gottes einschreiben.

 

Was wir sind, sind wir auch durch andere geworden, durch Eltern und Umgebung, durch Gesellschaft und Menschheit. Und das ist nicht nur eine synchrone Kommunikation und Beeinflussung, unsere Prägungen durch Gene, unsere Verhaltensmuster und unsere Arbeit, unser Lebensstil und unsere Werte bauen auf den Schultern vergangener Generationen auf. Was im 15. Jahrhundert gelebt, geglaubt, geliebt, gestritten, gearbeitet wurde, hatte oft nachhaltigen Einfluss.

 

Wer für andere betet, schaut auf sie mit anderen Augen. Er begegnet ihnen anders. Ich bete für dich! Es wirkt gerade dort, wo es Spannungen gibt, wo Beziehungen brüchig werden, wo Worte nichts mehr ausrichten, wenn der Tod uns voneinander trennt. Auch Nichtchristen sind dankbar, wenn für sie gebetet wird. Ein Ort in der Stadt, im Dorf, wo regelmäßig und stellvertretend alle Bewohner in das fürbittende Gebet eingeschlossen werden, die Lebenden und die Toten – das ist ein Segen.

 

 

Alles hat seine Zeit

 

Im Alten Testament gibt es bei Kohelet einen Text, der zunächst befremdend, weil fatalistisch und fast zynisch klingt. „Alles hat seine Stunde.“ Es gibt eine bestimmte Zeit zum Gebären und zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und zum Ernten, eine Zeit zum Töten und zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und zum Aufbauen, eine Zeit zum Lachen und zum Weinen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz, zum Suchen und zum Verlieren, zum Behalten und zum Wegwerfen, zum Steine Werfen und zum Steine Sammeln, zum Umarmen und die Umarmung zu lösen, zum Lieben und zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. Am Ende dieser seltsamen Aufzählung steht ein Wort, das meist nicht mehr gelesen wird. „Überdies hat Gott die Ewigkeit in alles hineingelegt.“ (Koh 3,11) Und: „Er wird das Verjagte heimholen.“ Deswegen dürfen wir vertrauen: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f.)

 

 

Annahme seiner selbst

 

Treue im Kleinen und Verborgenen, Aushalten der Endlichkeit und Begrenztheit, Selbstannahme in Kreatürlichkeit, im Geprägtwerden durch die eigene Herkunft und die Umgebung. Die Selbstannahme, das sich selber Gut-sein-Wollen resultiert aus der vorgängigen Erfahrung des Geliebt- und Gewolltseins. Es meint das ganz konkrete Leben, das gewöhnliche, normale, durch­schnittliche, das auch durch Grenzen gekennzeichnet ist: ich bin an einen bestimmten Ort geboren, in einer konkreten, meist nicht heilen Familie aufgewachsen, habe in bestimmten Gemeinschaften gelebt, bin durch die Umgebung geprägt worden, habe eine bestimmte Schule absolviert und mich für einen Beruf entschieden. Es stehen nicht mehr alle Möglichkeiten offen. Mit jedem Schritt im Leben, mit jeder Entscheidung wurde mein Horizont auch eingeschränkt, wurden andere Wege versperrt. Es heißt auch, dass ich mich an einen bestimmten Ort konzentrieren kann, zu einer bestimmten Aufgabe, zu einem Beruf entscheiden kann.

Die eigene Biographie, der Leib und das Innere des Menschen sind ja in der biblischen und mystischen Tradition privilegierte Orte der Erfahrung Gottes. Gotteserfahrung ist immer auch Selbsterfahrung. Und die 600 Jahre Pfarrkirche und kirchliche Gemeinschaft sind eine Geschichte der Gegenwart Gottes, eine Geschichte der Begleitung und Führung durch Gott.

 

 

Dankbarkeit

 

„In Dankbarkeit gewinnen wir das rechte Verhältnis zu unserer Vergangenheit. In ihm wird das Vergangene fruchtbar für die Zukunft.“ (Dietrich Bonhoeffer) Die Dankbarkeit ist verbunden mit der oft notwendigen Versöhnung. „Meine Seele, vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ (Ps 103,2) Ich suche einen Blick auf mein Leben, der von der Dankbarkeit geprägt ist und ich denke an die vielen Menschen, die mich von Anfang an über die verschiedenen Stationen geliebt, begleitet, gemocht, gefördert haben. - Zur Bilanz gehören auch Brüche, und Verletzungen, die weder in den anderen noch in mir schon ganz ausgeheilt sind.

 

Dankbarkeit und Lob sind hörbare innere Gesundheit. Jeder hat das schon selbst erfahren: In einem Gespräch, einer Sitzung, einer Besprechung – da gibt es Leute, die zunächst einmal das Gute und Positive am anderen, an einem Sachverhalt, an einer Herausforderung sehen. Natürlich: Man muss auch manchmal den Finger auf Wunden legen, Kritik üben und Widerstand anmelden. Was heute freilich oft fehlt, ist die Hochschätzung des anderen, ein grundsätzliches Wohlwollen für ihn und seine Anliegen und die Achtung seiner Person. Dankbarkeit und Lob wirken Wunder. Das gilt für Kinder, die sonst nicht wachsen, das gilt für eine gelungene Arbeit, auch für ein gutes Essen, das hören auch Männer gern. Gerade Jugendliche wachsen, wenn positiv über sie gedacht und geredet wird.

 

 

Da berühren sich Himmel und Erde

 

In unserer Lebenserfahrung gibt es Knotenpunkte und ausgezeichnete Stationen, wie zum Beispiel Taufe, Hochzeit, Tod. Diese Lebenssituationen bringen Freude, sie machen aber auch Not und Katastrophen deutlich. In solchen Zeiten haben die Glocken einen tiefen Sinn. Sie machen diese Ereignisse, ob mehr privat oder allgemein, öffentlich, erinnern daran und rufen die Menschen zusammen.

 

Die Glocken markieren wichtige Einschnitte und Unterbrechungen in unserem Alltagsleben: Sie läuten den Sonntag ein, um die Sonn- und Feiertage von den Arbeits- und Werktagen zu unterscheiden und hervorzuheben. Sie läuten am Morgen, oft auch am Mittag und am Abend. Damit wird unsere Zeiterfahrung markiert. Es ist nicht alles in unserer Zeit gleich-gültig. Es gibt hervorgehobene Zeitsituationen. Die Glocken erinnern uns an das persönliche Gebet. Daran knüpft auch der alte Brauch an, zu diesen Zeiten den „Angelus“ („Engel des Herrn“) zu verrichten. Und sie rufen in die Gemeinschaft der Kirche zusammen und zeigen den Beginn des Gottesdienstes an.

 

Damit werden wir auch an unsere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, vor allem zur Gemeinschaft des Glaubens, auch auf unsere Gemeinschaftsverpflichtung und auf unsere Solidarität hin erinnert. Dies wird besonders offenkundig, wenn Menschen aus unserer Gemeinschaft sterben. Seit alter Zeit wird beim Tod und / oder bei der Beerdigung die Totenglocke geläutet. Ähnlich ist es, wenn besondere Ereignisse für alle angezeigt werden, zum Beispiel Katastrophen, Feuer, Überschwemmungen.

 

Die Glocken machen uns aber auch den Rhythmus eines Jahres, besonders eines Kirchenjahres bewusst. Die großen Feste, wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten werden in besonderer Weise durch das Glockenläuten eröffnet und begleitet. Bei großen Ereignissen, an die wir erinnert werden sollen, läuten die Glocken, wie zum Beispiel in Erinnerung an die Bombardierungen unserer Städte, an die Schrecken der Pogrome.

So helfen uns die Glocken, dass wir die Zeit unseres Lebens, einzeln und gemeinschaftlich nicht einfach einebnen. Die Glocken helfen uns, unser Leben, nicht zuletzt unsere Jahre, Monate und Tage in ihrem Gefüge und in ihrer Ordnung zu verstehen. So machen uns die Glocken auf das Geheimnis der Zeit für das Leben der Menschen aufmerksam. Es ist nicht alles gleich-gültig. Die Glocken helfen uns, unser Leben besser zu erkennen und zu sichten, vielleicht es auch dann, wieder zu ordnen. Möge uns die Glocke helfen, dass wir je mehr erkennen, dass sich in unserem Leben, dass sich in St. Radegund Himmel und Erde berühren.

 

[1] Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Suhrkamp Frankfurt a.M. 2014.

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