Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder,
vielleicht waren manche von Ihnen schon einmal in den italienischen oder französischen Alpen zum Wandern. Wenn ja, dann ist Ihnen sicher der große Unterschied zu den schweizerischen, österreichischen und deutschen Alpen aufgefallen: In Italien und Frankreich sind die meisten Almen verwaist, die Almhütten eingefallen, die Weiden verbuscht und bewaldet. Die typischen Almlandschaften, die jahrhundertelang fast flächendeckend verbreitet waren, gibt es dort nicht mehr.
Womöglich werden manche spontan sagen: Da holt sich die Natur zurück, was der Mensch ihr mit der Rodung der Bergwälder einst genommen hat. Da wächst wieder eine „natürliche“, nicht vom Menschen gestaltete Vegetation heran. Doch ist der Verlust der Almen so leicht abzuhaken? Kann man den Traditionsbruch, den das Verlassen der Almen darstellt, so einfach beiseiteschieben?
Historisch betrachtet ist die heutige Almlandschaft der Alpen im Wesentlichen im Hochmittelalter entstanden. Zwar gab es zum Beispiel auf dem Dachstein-Hochplateau schon von 1700 bis 900 v. Chr. eine bronzezeitliche Almwirtschaft mit 28 Almen, um die Arbeiter des Salzbergbaus in Hallstatt mit ausreichender Nahrung zu versorgen. Ohne die Almwirtschaft wäre der Bergbau dort gar nicht möglich gewesen. Daher fand an allen Bergbaustandorten in den Alpen bereits in dieser frühen Phase Almwirtschaft statt. Doch eine systematische und flächendeckende Erschließung der höheren Lagen zur Sommerbewirtschaftung war erst nötig, als die alpine Bevölkerung ihren Höchststand erreichte – und das war im 12. und 13. Jahrhundert. Seitdem sehen die Alpen unterhalb der Baumgrenze so aus, wie wir sie kennen.
Welche Bedeutung haben die Almen aber in einer modernen Industriegesellschaft? Warum kann man sie nicht einfach aufgeben? Warum setzen die nationalen Regierungen und die Europäische Union Fördermittel für die Almbewirtschaftung ein?
Liebe Schwestern und Brüder, Israel kennt keine Almen, die nur im Sommer bewirtschaftet würden. Das Klima ist so warm, dass man selbst auf den höchsten Bergen ganzjährig Landwirtschaft treiben kann. Deshalb ist Israel ein Volk der Berge. In den fruchtbaren Ebenen am Meer und am Jordan wohnen die Philister und die Kanaanäer. Die haben modernste Waffen, so dass die Israeliten sie nicht besiegen können. Also ziehen sie sich in die Berge zurück, wo sie nur schwer angegriffen werden können und weitgehend in Ruhe gelassen werden (Jdt 7,10). Ihre Gegner trösten sich damit, dass Israel nur in den Bergen stark ist, denn sie sagen: „Ihr Gott ist ein Gott der Berge“ (1 Kön 20,23.28).
Für Israel sind die Berge Lebensraum und Nahrungsquelle zugleich:
- ein Lebensraum der Tiere, denn „die hohen Berge gehören dem Steinbock, dem Klippdachs bieten die Felsen Zuflucht.“ (Ps 104,18)
- ein lebensnotwendiges Wasserreservoir, denn „du tränkst die Berge aus deinen Kammern, aus deinen Wolken wird die Erde satt.“ (Ps 104,13)
- die Kornkammer des Landes, denn „im Land gebe es Korn in Fülle. Es rausche auf dem Gipfel der Berge.“ (Ps 72,16)
Besonders aber ist die Fruchtbarkeit der Berge ein Sinnbild für das Leben des Volkes Israel, wie uns die Lesung aus dem Buch Ezechiel eindrücklich verdeutlicht (Ez 36): „Ihr aber, ihr Berge Israels, sollt wieder grün werden und Früchte hervorbringen für mein Volk Israel; denn es wird bald zurückkommen. Seht, ich wende mich euch wieder zu und dann ackert und sät man wieder auf euch und ich lasse viele Menschen dort leben, das ganze Haus Israel… Ich lasse viele Menschen und Tiere auf euch leben und sie werden sich vermehren und fruchtbar sein.“ Mit der Deportation der Jerusalemer Oberschicht ins babylonische Exil waren die Berge verödet und wurden kaum noch landwirtschaftlich genutzt. Vier Jahrzehnte später prophezeit Ezechiel, dass dieser Zustand bald ein Ende hat. Das Bergvolk Israel darf in seine Berge zurückkehren. Aber Ezechiel richtet seine Botschaft nicht an die Menschen, sondern an die Berge: Ihnen verkündet er Heil und erneutes Wohlergehen. An sie denkt Gott ganz unmittelbar, als er sein Volk befreit.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum Matthäus so viel Wert darauf legt, dass Jesus seine Predigt über die Fülle der Nahrung für Pflanzen und Tiere auf einem Berg verkündet. Wo sonst könnten die Israeliten so augenscheinlich an die Großzügigkeit des Vaters im Himmel erinnert werden wie dort, wo alles voll ist von Lebensmitteln? Wo sonst könnten sie die Sorglosigkeit und das Gottvertrauen besser lernen als dort, wo Gott ihnen Nahrung wachsen lässt?
Liebe Schwestern und Brüder, am heutigen Erntedanksonntag danken wir für alle Lebensmittel, die der Schöpfer in diesem Jahr hat wachsen lassen. Dazu gehören auch die würzige Bergbauernbutter, die geschmacksintensive Almenmilch und die vielen Käsesorten, die im Alpenraum produziert werden. Es ist großartig, dass es diese Lebensmittel gibt und dass sie anders schmecken als die Produkte aus dem Tal.
Aber danken heißt auch denken. Ohne unsere Unterstützung kann die Almwirtschaft nicht überleben. Wenn wir die Almen wertschätzen, sollten die Bergbauern und -bäuerinnen sie umweltbewusst pflegen, die SteuerzahlerInnen sie mit öffentlichen Mitteln unterstützen und die KonsumentInnen in ihrer Freizeit auf den Almen und im Alltag zuhause das essen und trinken, was dort produziert wird – zu fairen Preisen. Außerdem müssen wir auf der Hut sein, dass nicht immer mehr und größere Skipisten die lebendige Vielfalt der Almen verdrängen. Und schließlich sollte die Kirche in alpinen Gemeinden den Almauf- und abtrieb auch im 21. Jahrhundert selbstbewusst feiern: Als Bitte um und Dank für den gesunden, unfallfreien Aufenthalt von Mensch und Tier in großer Höhe.
In Italien und Frankreich sind die meisten Almen verwaist, die Hütten eingefallen, die Wiesen verbuscht und bewaldet. Die biblischen Texte erinnern uns daran, dass da ein wertvoller Lebensraum verlorengeht. Noch ist das bei uns nur vereinzelt der Fall. An uns allen – auch weit weg vom Gebirge – liegt es, den Lebensraum Berge für die Zukunft zu erhalten.
Gebet zur Segnung der Erntegaben oder auch an einer anderen Stelle des Gottesdienstes:
Gott, unser Vater,
du sorgst für deine Geschöpfe.
Menschen, Tieren und Pflanzen schenkst du Nahrung und Lebensraum im Überfluss.
Wir danken dir für die Ernte des Jahres
in ihrer unendlichen Vielfalt und ihrem unerschöpflichen Reichtum.
Nähre und stärke uns mit dem, was auf Wiesen und Feldern, Almen und Bergen
und in Gärten und Weinbergen gewachsen ist.
Lass uns allezeit dankbar sein vor dir, unserem Schöpfer,
und gib, dass wir die Vielfalt der Lebensräume erhalten und mit allen Geschöpfen teilen.
Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.
Anmerkung: Das Motto des Erntedanksonntags wurde übernommen von der OeKU, der ökumenischen Arbeitsstelle Kirchen und Umwelt in der Schweiz. Bei dieser Stelle können unter www.oeku.ch auch weitere Materialien zum Thema und für die Schöpfungszeit vom 1.9. bis zum 4.10. bezogen werden.
Die OeKU schreibt zum diesjährigen Motto:
Die Alpen gehören mit etwa 30 000 Tier- und 13 000 Pflanzenarten zu den artenreichsten Gebieten Europas. Die Leitidee für die landwirtschaftliche, touristische, energetische und verkehrsmäßige Nutzung der Bergwelt muss die Nachhaltigkeit sein. Das bedeutet, dass der Lebensraum Berge den künftigen Generationen möglichst intakt erhalten werden soll. So bleiben die Berge auch in Zukunft Ort für die spirituelle Erfahrung. Dafür dürfen auch Pfarreien und Kirchgemeinden eintreten.