Donnerstag 2. Mai 2024

Vom Stutzen der Flügel

Oder: wie man Leute festnagelt auf ihre Herkunft und warum dann Wunder nicht möglich sind.

 

14. Sonntag im Jahreskreis, 5. Juli 2015

Evangelium Mk 6,1b-6

 

Autor: DSA Mag. Wilfried Scheidl

Manche Dinge scheinen sich auch in 2000 Jahren nicht geändert zu haben. Da erlaubt sich doch damals ein Zimmermann, passender wäre als Berufsbezeichnung wohl Bauarbeiter, ein „Hackler“ also auf gut österreichisch, die Schriftrollen in seinem Heimatdorf so auszulegen, dass alle staunen. Einer von uns, ein ganz Normaler, einer der nicht studiert hat … Woher hat er diese Weisheit? So ganz ohne Titel und entsprechender Bildungslaufbahn? Und Wunder geschehen durch ihn und rund um ihn? Aber wir kennen doch seine Sippe, seine Eltern, Schwestern und Brüder? Soll das mit Gott zu tun haben? Soll das wirklich in unserem Kaff Nazareth möglich sein? Oder wollen wir das nicht lieber glamouröser, wunderbarer haben? Sollte das nicht was Außergewöhnliches sein, was anderes, Fremdes, Überwältigendes?

Reichen uns wirklich die Erfahrungen mit diesem so normalen einfachen Mann? Und wenn uns das reichen würde, ja hieße das vielleicht auch, es wäre uns auch möglich, die eingetretenen Pfade zu verlassen? Das hieße ja sogar, dass auch uns neue Wege offen stünden, dass wir uns nicht festnageln lassen müssten auf das alltägliche Bekannte. Wir könnten die Spuren der Altvordern mal verlassen wenn wir den Eindruck haben, dass auch anderswo was Heilsames, Besseres möglich wäre? Ja, wenn …
Aber wie auch Jesus resignierend feststellt: der Prophet zuhause, der gilt nichts! Die altbekannte Stimme mit neuem Inhalt, die muss zum Schweigen gebracht werden. Es bleibt die alte Ordnung bestehen: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Finde dich ab mit deiner kleinen Welt, grase nicht raus, begnüge dich mit dem Alltäglichen, und sei es auch noch so mickrig.
 
Der ungarische Schriftsteller Szilárd Borbély beschreibt in seinem verstörenden Roman „Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?“ die selbst erlebte Enge eines solchen Dorfes im Ungarn der 50er und 60er Jahre. Keiner darf ausbrechen und Träume entwickeln. Fast noch schlimmer aber ist, wie die Bauern den Kindern das Träumen austreiben. Ist das betreffende Kind eingeschlafen, schaffen die Bauern ein schwarzes Kätzchen herbei, nähen es in einen Sack und schlagen es neben dem Kind mit Kirschholzstöcken tot. Ganz leise, damit das Kind nicht aufwacht, die Qualen des Tieres aber im Schlaf hört. Die Todesangst der Katze soll so in das Kind übergehen und den Traum verjagen.

Und nun wörtlich: „Wenn die Katze ausgelitten hat, glätten sich die Gesichtszüge des Schlafenden. Na, jetzt kommt der Traum aus ihm heraus, flüstern sie einander zu. Gott sei Dank. Die Mütter beruhigen sich. Nun wird das Kind endlich keine Probleme mehr machen. Von nun an müssen sie sich im Dorf nicht mehr seinetwegen schämen (…)“

Nun funktioniert das Kind, erfüllt die Rolle, die ihm Familie, Sippe und dörfliche Gemeinschaft vorgeben, es spricht nicht mehr von seinen Träumen und es träumt auch nicht mehr.

Es scheint, als wäre unter uns Menschen immer etwas Missgünstiges, Hemmendes, wenn mal wer abzuheben droht, wenn wer einen anderen Weg einschlägt. Das Wunderbare hätten wir schon gerne, aber wenn das bei uns, unter uns beginnt, aufblüht? Tausend Argumente dagegen: die Heimat, die Verwandtschaft, die Familie  - den, die kennen wir doch! Da kann ja nichts draus werden! Keine Träume!

Und deshalb akzeptieren viele stillschweigend das alltägliche Elend und resignieren: da kann man halt nichts machen! Und deshalb haben z. B. heute in unserer Gesellschaft Leute mit anderer Hautfarbe, anderem Nachnamen oder vornehm gesagt: mit Migrationshintergrund eher wenig Chancen abzuheben. Und deshalb bleiben viele Jugendliche sitzen, und geben sich von vorhinein auf. Und werden dann auch oft noch darin bestätigt von ihrer Umwelt. Akzeptiere das kleinere Unglück, lass das Fliegen und Träumen, finde dich drein in die Rolle …
Falsche Wohngegend, falscher Nachname, falsche Nationalität – so ist das eben in unseren Breiten. Und unsere inneren Filme werden schon abgespult, wenn einer Kevin oder eine Fatima heißt und sie auch ein gutes Leben haben wollen … was meinen wir nicht alles zu wissen, bevor wir noch ein Wort gesprochen haben mit dieser oder jenem … Dagegen ist wohl niemand von uns gefeit. Wir haben unser Urteil schon gefällt, wenn wir den Hintergrund betrachten, und wer davor steht, das nehmen wir kaum noch wahr.

Evangelium aber hieße: lass den Hintergrund mal weg, lass dich ein auf den Menschen vor dir, akzeptiere, dass du zuerst einmal gar nichts weißt über diesen Menschen und traue ihm alles Gute zu! Vertraue ihm, und wenn du das ausstrahlst, dann wird dein Gegenüber vielleicht sogar Wunder vollbringen. Anders geht es nicht! Bedauernd werden dann die Köpfe geschüttelt, wenn die Jugendlichen es wieder nicht packen, keine Stelle bekommen, aus allen Bezügen rausfallen, und einen Abbruch nach dem anderen hinlegen. Oft aber erfahren die kritisch beäugten Problemjugendlichen (in Österreich sind schätzungsweise 75.000 Jugendliche und junge Erwachsene weder in Ausbildung, noch in der Schule oder im Beruf) kein Vertrauen, kein Zutrauen in ihrem Umfeld und auch nicht in der Gesellschaft. Und sie verhalten sich dann auch dementsprechend, und bestätigen die Vorurteile.

Das aber geschieht nicht von selber oder weil die eben so sind, wie sie sind. Nein, Nazareth und sein Beharren auf das scheinbar Unvermeidliche ist ein Dauerbrenner, das Dorf, das Leute am Abheben verhindert, das existiert auch heute noch. Heute nennen wir es vielleicht Problemviertel oder sozialer Brennpunkt oder Prekariat. Aber eigentlich hat sich da nicht viel geändert.

Aber in Jesus haben wir einen, der das widerlegt hat. Zur Ermutigung für uns alle, uns nicht flügellahm machen zu lassen. Glauben wir daran, dass Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreiben kann? Lassen wir das zu? Das fällt uns nicht leicht, weil wir ja auch gerne das ganz andere Wunder hätten, den Star von außen, das Abgehobene. Aber nein, in unserer Mitte wird die Geschichte anders geschrieben oder ansonsten gar nicht.

Dazu noch eine ermutigende Gegen-Geschichte zum vorher zitierten Beispiel aus dem Jahr 2015: stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Großstadtviertel. 25.000 Einwohner, ein Viertel davon arbeitslos, fast die Hälfte der Erwachsenen beziehen Mindestsicherung, viele Menschen mit Migrationshintergrund. Soweit, so entmutigend.
Aber stellen Sie sich auch vor, dort gibt es wache Frauen und Männer, die es unter der Ägide ihres Pfarrers geschafft haben, vor Ort für Wunder zu sorgen. Zum Beispiel dieses: in der Hauptschule vor Ort werden Jahr für Jahr für die Schüler der Abschlussklasse  Bewerber-Bücher erstellt, schön gestaltete Bücher, in denen sich die Schüler mit ihren Stärken, Wünschen und Porträtfotos präsentieren können. Sie erstellen dazu ein Profil, das eben nicht für Facebook gilt, sondern eines mit den Begabungen, die sie selber sehen bzw. zu deren Wahrnehmung sie ermutigt worden sind. Und diese Bücher werden hundertfach an die Firmen vor Ort verteilt als Zeichen: wir sind da, wir können was, aus uns kann was werden, wenn ihr uns eine Chance gebt! Einmal wurden sogar im ganzen Viertel Plakate mit den Fotos und Beschreibungen der Schüler an die Wände geklebt – Motto: seht her, da sind wir, das wollen wir für unser Leben …

Und seitdem das so gemacht wird, haben sich die Ausbildungsplätze für die Schul-Abgänger verdreifacht.

Ja, das ist kein Märchen, sondern ein Beispiel, wie die Idee von Pfarrer Franz Meurer in der Pfarre Köln Höhenberg Vingst das Evangelium von heute umsetzt: ja, aus Nazareth, aus unserem Viertel, aus unserm Kaff, da kann was Gutes kommen! Da sind Wunder möglich! Und wenn einem, einer etwas zugetraut wird, dann können andere Geschichten geschrieben werden, ja sogar Wunder-Geschichten.

 

Linktipp

Nähere Infos zu Pfarrer Meurer und dem Ansatz vor Ort zu finden unter:
http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Meurer
Zitierte Literatur: Szilárd Borbély, Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg?
Suhrkamp Verlag Berlin 2014, S. 109

 

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