Tiefe und Weite
Bei der Zusage, darüber zu schreiben, habe ich gezögert. Wenn, dann wollte ich keine allgemeinen theologischen Aussagen machen, die mir oft wenig hilfreich erscheinen, sondern persönlich davon sprechen.
Mein persönlicher Glaube ist aber etwas fast Intimes. Auch als Theologe fällt es mir nicht leicht darüber zu schreiben. Menschen, die das freimütig tun, begegne ich selbst immer mit einem gewissen Vorbehalt. Will ich etwas vom meiner persönlichen Glaubenspraxis preisgeben? Finde ich die richtigen Worte, die das verständlich machen, was mich bewegt? Laufe ich dabei Gefahr, etwas Wertvolles in mir zu entzaubern, indem ich es öffentlich mache? Diese und ähnliche Frage gingen mir durch den Kopf, bevor ich mich doch dazu entschlossen habe. Ich habe es vor allem deshalb getan, weil ich darin die Möglichkeit gesehen habe, das Thema für mich selbst zu reflektieren.
Glaube – Mehr als eine Kraftquelle
Wenn Glaube das Leben in einer Beziehung zu Gott meint, dann ist Glaube mehr als eine Kraftquelle.
Es geht nicht darum, Glauben zu reduzieren oder zu instrumentalisieren. Wir alle kennen den heutigen Zeitgeist, wo für viele Menschen Meditation eher nur ein weiteres Tool zur Selbstoptimierung zu sein scheint. Glaube, Gebetsleben oder spirituelle Praxis sind aber kein Automatismus, der zu persönlicher Energie führt. Gott ist unverfügbar und Glaube ist nicht immer eine Kraftquelle. Die Erzählung vieler Heiliger beschreibt, dass auch sie die Erfahrung seelischer Trockenheit und Gottverlassenheit kennen.
Mich selbst fordert die Begegnung mit Gott immer wieder heraus, weil sie mich in Frage stellt. Manchmal kostet mich das Überwindung. Denn Glauben verlangt von mir zu vertrauen. Wie aber erlebe ich Glauben konkret als Kraftquelle in meinem Alltag?
Unterbrechung
Von dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz (1928-2019) stammt die wahrscheinlich „kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“. Er meint damit die irritierende Unterbrechung des Faktischen. Ich erlebe das so. Ohne Unterbrechung kommt die Tiefendimension des Lebens nicht ins Spiel.
Ich sehne mich aber nach Tiefe, weil ich weiß, dass es das ist, was mich eigentlich trägt. Der frühere Generalobere der Jesuiten P. Adolfo Nicolas SJ hat davon gesprochen, dass wir die Globalisierung der Oberflächlichkeit erleben. Unterbrechen kann dabei so etwas wie eine Tiefenbohrung sein.
Persönlich erlebe ich verschiedene Formen von Unterbrechung täglich, wöchentlich oder einmal im Jahr als hilfreich: Wenn ich es in der Früh schaffe, zehn bis 20 Minuten auf meinem Meditationsplatz Stille zu halten, wird der Tag anders. Und gerade an Tagen oder in Zeiten, wo mir das nicht gelingt, weil ich meine „das geht sich heute nicht aus“, würde ich es eigentlich besonders brauchen. Der Sonntag – in der Tradition des Shabbat – kann für mich wirklich zur Quelle werden.
Habe ich Zeit für den Gottesdienst, für Gespräche für Ruhe oder verplane ich auch diesen Tag? Im Sommer ziehe ich mich eine Woche zu Exerzitien im Schweigen zurück: nichts lesen, keine E-Mails, kein Handy, mehrmals täglich Bibelbetrachtung und Gebet.
Aber auch zwischendurch entdecke ich manchmal Momente als Gelegenheit zur Unterbrechung: das Warten auf die U-Bahn oder an der Ampel, im Wartezimmer bei Arzt, bis der Kaffee fertig ist. Die größte Gefahr für Momente und Zeiten der Unterbrechung ist für mich in den letzten Jahren mein Smartphone geworden. Statt Unterbrechung und Tiefe verleitet es mich zur Zerstreuung. Als Kraftquelle erlebe ich das dann selten.
Dankbarkeit
Ignatius von Loyola (1491-1556), der Gründer des Jesuitenordens, war ein Kenner der menschlichen Seele. Für den täglichen Tagesrückblick weist er seine Mitbrüder an, immer bei dem zu beginnen, wofür man Dankbar ist und dann erst auf das zu schauen, was einen unversöhnt zurücklässt.
Persönlich erlebe ich diese Übung als in mehrfacherweise wirklich als Übung. Ich muss lernen und zulassen, dass ich meine echten inneren Bewegungen spüre und sie mir bewusst mache. In der täglichen Wiederholung habe ich die Gelegenheit, meinen Blick und meine Aufmerksamkeit zu trainieren, auf all das Gute und das Empfangene in meinem Leben zu achten. Dieses „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ ist für mich eine Quelle von Kraft und Zuversicht, die mich auch schwierige Dinge und Zeiten aushalten lässt.
Jesus Christus
Eine dritte Form, in der ich Glaube als Kraftquelle erlebe, klingt mir selbst fast als zu fromm: Auf Jesus Christus zu schauen gibt mir Kraft. Im Lesen und meditieren einer Bibelstelle kann ich mich mit einem „Mindset“ vertraut machen. Es inspiriert mich, immer mehr zu verstehen, wie er denkt, redet, und handelt. Und ich kann ihn mir darin zum Vorbild nehmen. „Imitatio Christi“ – die Nachahmung Christi – als eine Lebensweise ermutigt mich immer wieder, Dinge zu tun oder auf eine Weise zu tun, die ich sonst nicht so machen würde. Die Kraft dazu gibt mir das Beispiel von Jesus. Es ist für mich aber auch Kraftquelle, in der Stille einfach seine Freundschaft zu genießen.
Glaube – Mehr als individuelle Spiritualität
Glaube als Kraftquelle zu erleben ist persönlich und damit ist es meine Verantwortung diese zu pflegen. Für christliche Spiritualität ist aber die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aller Gläubigen und die Gemeinsamkeit aller Menschen konstitutiv. Die Erfahrung von gelebter Gemeinschaft kann selbst zu einer Quelle der Kraft des Glaubens werden. Sie wird dadurch auch eine Quelle mit großem Horizont und lässt mich Gottes Wirken nicht nur hier und jetzt für mich sehen, sondern in jahrtausendealter Tradition: Als Geschichte und Perspektive auf eine Zukunft hin für alle Menschen und die Welt als Ganzes.
Die Kraftquelle Glaube hat damit beides: Tiefe und Weite.
Mag. Georg Nuhsbaumer,
Theologe und Organisationsentwickler, Leiter der Bereiche Christlich inspirierte Führung und Organisationskultur im Kardinal König Haus – Bildungszentrum der Jesuiten und der Caritas in Wien.