Die Dogmatische Konstitution über die Kirche - Lumen gentium (Licht der Völker)
Die Kirche war immer schon, sie hat immer schon…? Jein. In vielem gab es Entwicklungen, oft sogar direkt ins Gegenteil des Ursprünglichen und dann gelegentlich wieder zurück. Dies gilt auch für das Selbstverständnis der Kirche.
So heißt es in einer mittelalterlichen Schrift des 12. Jahrhunderts, in der "summa parisiensis": "Nichts anderes wird als Kirche bezeichnet als die Kleriker." Und der 98%ige Rest?
Die Aussagen Jesu bezüglich seiner Gemeinschaft sind da bereits völlig verschwunden.
Dass es am Anfang nicht so war, belegen die biblischen Berichte der Apostel-geschichte, die apostolischen Briefe und Kirchenväter der Antike.
Als Martin Luther gegen die klerikalen Verengungen und Verirrungen diesen biblischen und urkirchlichen Anfang zu Recht wieder in den Blick rückte, wurde dies von der katholischen Kirche nicht angenommen, denn das Konzil von Trient und die Gegenreformation wollten sich möglichst eindeutig gegen Luther und andere Reformatoren abgrenzen.
Das I. Vatikanische Konzil gab noch eines drauf, indem es die Spitzenstellung des Papstes noch weiter erhöhte. Das Selbstverständnis der Kirche ergab sich aus dem Kirchenrecht und dem Lehramt. Dass es beim II. Vatikanischen Konzil zu einem grundlegenden Umdenken kam, war also sicher nicht von vornherein als möglich anzusehen oder gar zu erwarten.
Die von der Vorbereitungskommission erarbeitete erste Vorlage entsprach der damals üblichen Schultheologie, wurde aber von der Mehrheit der Konzilsväter abgelehnt und zurückverwiesen.
Bei der Debatte über die überarbeitete zweite Vorlage setzten sich jene, die eine neue biblische, heilsgeschichtliche und zeitnahe Sicht der Kirche befürworteten, gegenüber jenen, die Festlegungen im traditionell theologischen Sinn wollten, durch.
Der aus der dritten Vorlage hervorgegangene und schließlich fast einstimmig beschlossene Text beginnt bezeichnender Weise mit dem Satz: "Christus ist das Licht der Völker" und nicht mit der Sicht von Kirche im Sinn von "Ein Haus voll Glorie schauet..."
Die Kirche ist in allem auf Christus und den dreieinigen Gott hingeordnet, aus sich selbst ist sie nichts. Die Lebensquelle der Kirche ist der Heilige Geist. Er ermöglicht mit seinen Charismen den Aufbau der Kirche.
Die Kirche ist eine Wirklichkeit des Reiches Gottes, die Kirche selbst ist aber nicht das Reich Gottes. Dieses reicht weit über die Kirche hinaus – es verwirklicht sich überall dort, wo sozusagen Gott in Menschen zum Zug kommt. Das Konzil gibt keine dogmatischen Definitionen von der Kirche, sondern versucht in Bildern das Wesen und die Aufgabe der Kirche darzustellen, die ein Miteinander und Ineinander von Göttlichem und Menschlichem zeigen.
Eine wesentliche und die bisherige Sicht korrigierende Aussage lautet: Die Kirche Jesu Christi ist IN der r.k. Kirche "verwirklicht" (subsistit), aber die r.k. Kirche IST nicht für sich ganzheitlich und alleinig die Kirche Jesu Christi. Diese Sicht öffnet auf die Ökumene hin, denn sie anerkennt, dass auch die anderen christlichen Kirchen Anteil an dieser Verwirklichung der Kirche Jesu Christi haben.
Schließlich bekennt das Konzil, dass auch die r.k. Kirche stets der eigenen Bekehrung und Reform bedarf, es verabschiedet sich von der überheblichen Auffassung der eigenen Vollkommenheit gegenüber der Unvollkommenheit der anderen christlichen Kirchen.
So viel zum 1. Kapitel von "Lumen gentium", welches das Mysterium der Kirche und deren sakramentale Deutung, also besonders ihren Bezug zu Jesus Christus und ihre heilsgeschichtliche Aufgabe herausstellt.
Dem Konzil war es besonders wichtig, die Kirche als pilgerndes Volk Gottes dazustellen, zu dem ausdrücklich alle Getauften gehören. Die Kirche ist Heilszeichen und Heilsmittel (Sakrament des Heils) für die Welt.
Nach der fortschreitenden Einengung des Priestertums auf den Klerus und der Abwehr der Vorstellung Martin Luthers von einem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen beim Konzil von Trient, kehrt das Vat. II an den Anfang der Kirche zurück und betont das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen. Das Weihepriestertum und das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen haben verschiedene Aufgaben, sind aber beide für die Kirche nötig.
Diese neue Sichtweise erfordert ein Umdenken des Klerus und der "Laien", die nun nicht mehr die vom Klerus betreute passive Herde darstellen, sondern selbst aktiv tätig werden sollen. Beide Seiten blieben nach dem Konzil die nötige Entwicklung weitgehend schuldig – der Klerus ging in Richtung des nun von Papst Franziskus kritisierten Neoklerikalismus weiter und auf Seite der "Laien" war nur eine Minderheit zu eigenverantwortlichem Handeln bereit. Die "Laien" waren dazu vom Klerus allerdings zuvor auch kaum motiviert und befähigt worden.
Hinsichtlich der Unfehlbarkeit in der Glaubenslehre verweist das Konzil darauf, dass diese aufgrund des in allen Gläubigen wirkenden Heiligen Geistes zuerst der Gesamtkirche zukommt. Es setzt also seit dem Vat. I auftretende einseitige Zuspitzungen auf den Papst nicht fort, sondern schaut dagegen auf den "sensus fidelium", den Glaubenssinn aller Gläubigen. Das Konzil betont auch, dass die Leitung der Gesamtkirche nicht allein dem Papst und der Kurie obliegt, sondern der Gesamtheit der Bischöfe mit dem Papst. Nach dem Konzil wuchs allerdings eher der römische Zentralismus, von einer kollegialen Leitung der Weltkirche konnte und kann immer noch keine Rede sein. Papst Franziskus will offensichtlich da den vom Konzil angepeilten Weg beschreiten.
Die zugunsten des Amtes in der Kirche weitgehend vergessenen oder zurückgedrängten Charismen (Gaben des Heiligen Geistes) aller Getauften werden wiederentdeckt und als für den Aufbau der Kirche unentbehrlich angesehen. Amt und Charismen werden aufeinander zu einem kreativen und geordneten Miteinander verwiesen.
Beim Konzil verstand sich die Kurie als Repräsentant der Weltkirche, musste sich aber von den Konzilsvätern alsbald sagen lassen, dass nicht sie, sondern die Versammlung der Bischöfe der einzelnen Ortskirchen die Weltkirche ausmacht. Die Konzilsväter betonten daher deutlich, dass nicht die Zentrale in Rom, sondern die Gemeinschaft der Ortskirchen die Weltkirche darstelle.
Wesentliche Aufgabe des Petrusamtes, also des Papstes ist die Sorge um die Einheit, aber nicht die Einheitlichkeit der Ortskirchen, die auch ihre Eigenständigkeit wahrnehmen sollen. Die Konzilsväter lehnen sowohl ein eigenmächtiges Nationalkirchentum als auch einen römischen Zentralismus ab.
Sie betonen, dass es verschiedene Formen der sichtbaren und unsichtbaren Zugehörigkeit zur Kirche gibt. Die Formel "extra ecclesiam nulla salus" (außerhalb der Kirche kein Heil) wird als Mahnwort an die Mitglieder der katholischen Kirche verstanden, aber nicht als Heilsausschluss der Mitglieder anderer christlicher Kirchen und Gemeinschaften, die auf vielfältige Weise mit der r. k. Kirche verbunden sind. Das Vat. II hat damit die Blickrichtung des Konzils von Trient umgekehrt: Statt des Defizits in der Lehre und des Trennenden wird nun zuerst das Gemeinsame und Verbindende gesehen.
Darüber hinaus wird auch den Nichtchristen ein Anteil an der Wahrheit und am Heil zugestanden. Schließlich betonen die Konzilsväter, dass die Kirche aufgrund ihres Wesens und ihrer Sendung durch Jesus Christus nur eine missionarische Kirche sein kann. Dieses missionarische Sein und Tun betrifft nicht nur die Amtsträger, sondern alle Gläubigen.
Viel von dem, was den Konzilsvätern vorschwebte, wurde inzwischen wenigstens in etwa verwirklicht, anderes ist aber nicht angegangen worden und in manchem ging es sogar in die Gegenrichtung weiter. Durch Papst Franziskus wächst nun die Hoffnung, dass endlich die nötigen neuen Wege beschritten werden.
Franz Schobesberger