Reform der Arbeitslosen- versicherung
Sehr geehrter Herr Bundesminister Univ.-Prof Dr. Martin Kocher!
Bei der anstehenden Reform der Arbeitslosenversicherung ersuchen wir Sie um Berücksichtigung unserer Vorschläge. Besonders wichtig ist uns die Abschaffung der Totalsperren der AMS-Leistungen, da dies eine enorme Belastungssituation für die Betroffenen darstellt, die 6 oder 8 Wochen lang nicht wissen, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. So eine drakonische Bestrafung ist menschenunwürdig.
Über ein Drittel der ausgesprochenen Sperren, die einen Schock bei den arbeitslosenversicherten Menschen auslösen, wurden 2020 nach Einsprüchen vom AMS in Oberösterreich zugunsten der Betroffenen wieder aufgehoben. Der Schaden, wochenlang keine Leistung zu bekommen, wirkt aber enorm nach, da diese Menschen zumeist über keine finanziellen Reserven verfügen und die Lebenshaltungskosten in den letzten Monaten enorm gestiegen sind.
Die strengen Zumutbarkeitsbestimmungen für arbeitslose Menschen in Kombination mit den Sanktionen bewirken, dass der Druck bei längerer Arbeitslosigkeit enorm steigt. Das Arbeitslosengeld kann für 6 oder 8 Wochen auf Null gestrichen werden, wenn z. B. eine als zumutbar eingestufte Stelle nicht angenommen wird. Das ist eine existenzbedrohende Situation, die auch eine Delogierung zur Folge haben kann. Im Vergleich mit einer Geldstrafe bei einer gerichtlichen Verurteilung entspräche sie einer unbedingten Strafe von 42 bzw. 56 Tagsätzen. Daher fordern wir, Sanktionen mit einer völligen Sperre des AMS-Bezuges abzuschaffen.
Ergebnis der WIFO-Studie aus dem Jahr 2016:
„Zusammenfassend finden sich keine Hinweise darauf, dass ein intensiverer Einsatz von Sanktionen ein wirksames Mittel wäre, um die Reintegration in Beschäftigung zu erhöhen. Wenn, dann ist eher zu erwarten, dass damit ein häufigerer Rückzug aus dem Arbeitsmarkt verursacht würde.“ (Die Wirkung zentraler Interventionen des AMS im Prozess der Vermittlung von Arbeitslosen, 2016, www.ams-forschungsnetzwerk.at)
Andererseits wäre eine Kostenbeteiligung (Sanktion) für Betriebe zu überlegen, die eine Einstellzusage nicht einhalten, die Beschäftigte für ein bestimmte Zeit in die Arbeitslosigkeit schicken und danach wieder einstellen oder nur pro forma offene Stellen melden, um am Arbeitsmarkt nach den Besten zu suchen.
Wir meinen überdies, dass das Menschenbild in der politischen und öffentlichen Diskussion geändert werden muss. Den betroffenen Menschen wieder eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, muss das Ziel sein. Existenzängste plagen viele arbeitslose Menschen. Mit zunehmender Dauer sinkt der Selbstwert. Schamgefühl, Rückzugstendenzen und psychosomatische Beschwerden nehmen zu.
Unterstellte Unwilligkeit führt dazu, dass viele Maßnahmen wie degressives Arbeitslosengeld, Zuverdienst abschaffen, Zumutbarkeitsbestimmungen verschärfen etc. mit dem Ziel einer Erhöhung des Drucks auf Arbeitssuchende diskutiert werden. Freiwillig verbleiben in der Arbeitslosigkeit nach unseren Erfahrungen keine arbeitslosen Menschen. Der Zugang zum Arbeitslosengeld wird aufgrund der geltenden Bestimmungen bereits restriktiv gehandhabt, eine menschenwürdige Existenzsicherung muss jedenfalls das Ziel sein.
Erfahrungen von Diskriminierung und Beschämung belasten die Psyche Arbeitssuchender extrem. Oft werden sie stigmatisiert oder als Schuldige an ihrer Lage dargestellt. Arbeitslosigkeit darf nicht bloß als individuelles Versagen dargestellt werden, es ist ein gesamtgesellschaftliches strukturelles Problem und primär in der Verantwortung der Politik.
Das Arbeitslosengeld ist eine Versicherungsleistung und dient zur Existenzsicherung. Es ist mit 55% des letzten Nettoeinkommens in Österreich im internationalen Vergleich sehr niedrig. Das mittlere Arbeitslosengeld beträgt monatlich unter 1.000,- Euro, für Frauen deutlich weniger. Das schützt nicht ausreichend vor Armut, besonders Teilzeitkräfte aus Gastronomie oder Einzelhandel, die aufgrund des geringen Einkommens auch nur ein sehr geringes Arbeitslosengeld bekommen. Menschen mit niedrigerem Einkommen werden überdurchschnittlich oft arbeitslos und leben zu 2/3 in armutsgefährdeten Haushalten.
Das Arbeitslosengeld soll dauerhaft auf mindestens 70% des Letztbezuges angehoben werden. Auch volkswirtschaftlich wäre es sinnvoll, das Arbeitslosengeld samt Notstandshilfe zu erhöhen, weil diese fast zur Gänze wieder für Konsum ausgegeben werden. Das Arbeitslosengeld ist mit einer Obergrenze gedeckelt, d. h. eine Erhöhung nützt ausschließlich den niedrigen Einkommensschichten. Ein degressiver Verlauf über die Dauer der Arbeitslosigkeit löst nicht die Probleme bei der Arbeitssuche, sondern erhöht den Druck und die Armutsgefährdung.
Mit der Zuverdienstmöglichkeit durch eine geringfügige Beschäftigung halten arbeitslose Menschen den Kontakt zur Arbeitswelt und es gibt die Chance, dass daraus ein richtiges Dienstverhältnis entsteht.
Die Zumutbarkeitsbestimmungen für arbeitslose Menschen sind schon derzeit sehr streng. Arbeitslosen Menschen mit angepasster Unterstützung oder Beratung ermöglichen ihre Fähigkeiten zu entdecken und eine dazu passende Arbeitsstelle zu finden, wäre eine wichtige Umstellung bei den Zumutbarkeitsbestimmungen. Zumutbar kann nur eine Stelle sein, für die sich Arbeitssuchende selbst entscheiden und die existenzsicherndes Einkommen bietet. Die tägliche Wegstrecke oder gar ein Wohnortwechsel müssen mit den persönlichen Lebensumständen vereinbar sein. Es braucht somit auch für Arbeitsplätze Zumutbarkeitsbestimmungen.
Bei niedrigem Arbeitslosengeld müssen für eine Aufzahlung aus der Sozialhilfe deutlich schlechtere Bedingungen in Kauf genommen werden, z. B. muss vorher vorhandenes Vermögen verwertet werden und das gesamte Haushaltseinkommen wird zur Berechnung herangezogen. Die Sozialhilfe muss daher über den Armutsgefährdungsbetrag angehoben werden, und bei einer Aufzahlung sollen die Bedingungen des Arbeitslosengeldbezuges gelten.
Längere Arbeitslosigkeit führt automatisch zu einer geringeren Pensionshöhe, die Altersarmut wird weiter steigen. Statt Teilversicherungszeiten sollen bei Arbeitslosigkeit Beitragszeiten auf Basis des Erwerbseinkommens entstehen. Daher sollen bei Arbeitslosigkeit die Pensionsversicherungsbeiträge auf die vom letzten Einkommen berechnete Höhe aufgestockt werden.
Politische Entscheidungen werden getroffen, ohne dass die Betroffenen gehört werden. Es braucht ein gesichertes Mitspracherecht für arbeitslose Menschen bei den sie betreffenden politischen Entscheidungen. Zusätzlich zur Interessensvertretung in AK und ÖGB ist die Errichtung einer unabhängigen Sozial- oder Arbeitslosenanwaltschaft sinnvoll.
Fast 50% aller arbeitslos Gemeldeten haben keine Berufsausbildung und können mit dem gestiegenen Qualifikationsniveau nicht mithalten. Ein Rechtsanspruch auf kostenfreie Aus- und Weiterbildung, um die beruflichen Kenntnisse zu aktualisieren, kann für alle arbeitslosen Menschen ihre Arbeitsplatzchancen steigern.
Langzeitarbeitslose Menschen mit Handikaps, gesundheitlichen Einschränkungen oder höheren Alters haben kaum Chancen auf einen passenden Arbeitsplatz. Da es besser ist, Beschäftigung statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, braucht es ein Beschäftigungsprogramm in öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtungen mit einer bis zu 100%igen Lohnkostenförderung.
Es braucht mehr Geld für individuelle Beratung bei der Arbeitssuche oder für Beschäftigung in sozialökonomischen Betrieben. Die dabei eingesetzten Fördermittel fließen innerhalb weniger Jahre wieder als Einnahmen an den Staat zurück, belegen zahlreiche SROI – Social Re-turn On Investment Berechnungen.
Das Anforderungsniveau von Betrieben für die Aufnahme von Lehrlingen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Daher haben junge Menschen mit schlechteren Schulzeugnissen oder nicht perfektem Lebenslauf deutlich geringere Chancen in Auswahlverfahren zu bestehen, auch wenn nun wieder mehr offene Lehrstellen beim AMS gemeldet sind. Daher braucht es für alle jungen Menschen bis 25 Jahre einen garantierten Ausbildungsplatz, damit sie einen Berufsabschluss oder zumindest eine qualitative Teilqualifizierung erreichen können.
In der jetzigen Krise hat der österreichische Sozialstaat einiges abgefedert, aber mit bereits vorher bekannten Schwächen z. B. zu niedriges Arbeitslosengeld und zu niedrige Sozialhilfe. Es braucht eine Stärkung der Solidarität in unserer Gesellschaft als Fundament für einen tragfähigen Sozialstaat.
Auch wenn viele offene Stellen gemeldet sind, gibt es doch nicht für jede/n Arbeitssuchende/n einen passenden Arbeitsplatz. Daher braucht es ein öffentliches Investitionsprogramm zur Schaffung neuer sozial und ökologisch nachhaltiger Arbeitsplätze z. B. in der Gebäudesanierung oder mehr Mittel für zusätzliche und gute Arbeitsplätze in der Pflege.
Niemand ist gerne von Sozialleistungen abhängig, denn jeder Mensch möchte sein Leben davon unabhängig gestalten können. Es ist eine bessere Verteilung der Erwerbsarbeit etwa durch die Verlängerung der Altersteilzeit, durch attraktivere Bildungskarenz oder durch eine generelle Arbeitszeitverkürzung erforderlich, damit alle Menschen selbstständig ihre Existenz sichern können.
Wir würden uns freuen, wenn unsere Anliegen bei der Reform der Arbeitslosenversicherung und im politischen Diskurs Berücksichtigung finden würden. Für weitere Informationen stehen wir gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Winkler
Geschäftsführer der Bischöflichen Arbeitslosenstiftung