Die suchenden Söhne und der barmherzige Vater
Dem Leben auf der Spur
Oder: Die Barmherzigkeit des Vaters
Oder: Das Gleichnis von den „verlorenen/suchenden Söhnen“
Das Gleichnis „vom verlorenen Sohn“ ist den meisten Menschen bekannt. Die Gedanken werden sofort auf die leichtfertige Verschwendung und die selbst verschuldete und schlimme Zeit des jüngeren Sohnes gelenkt. Zum Glück spricht die Malerei eine andere Sprache. Allen voran hat Rembrandt mit dem Bild des „barmherzigen Vaters“ eine wesentlich tieferliegende Aussage des Evangeliums erkannt und ins Bild gebracht. Nouwen bringt dazu eine faszinierende spirituelle Deutung.[1]
Ich nenne diese Stelle, die so etwas wie die Mitte des Lukasevangeliums darstellt, gern das Gleichnis von den „suchenden Söhnen“. Beide sind mit ihrem Leben nicht zufrieden und beide sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Diese Stelle ist Teil des sogenannten lukanischen Reiseberichtes, wo erzählt wird, wie einfühlsam Jesus mit den Sorgen der Menschen umgegangen ist (Lk 9,51-19,27). Der Weg nach Jerusalem, dem Ort der Gegenwart Gottes, ist nicht nur eine geographische Reise, sondern auch eine spirituelle. Die Einheitsübersetzung stellt vor die Kapitel 13,22-19,27 den Titel: „Von der neuen Ordnung im Reich Gottes“. Was ist nun der Kern für diese neue Ordnung, in dessen Mitte der barmherzige Vater steht?
Der Vater als neue Ausrichtung
Neue Ordnung heißt, dass nicht einfach alles Bisherige über Bord geworfen werden muss, sondern neu ausgesondert und geordnet wird. Zentral für eine neue Ordnung sind die Grundlage und das Motiv für die Ordnung, d.h. wonach kann sich etwas ausrichten und ordnen, oder schöpfungstheologisch gesprochen, was oder wer bringt in das Chaos Ordnung? Bei Veränderungen muss man wissen, warum man etwas tun soll und welchen Zugewinn das für das eigene Leben hat. In dieser Stelle steht der barmherzige Vater, wie er in Lk 15,11-32 beschrieben wird, als Orientierung und Vorbild im Zentrum. Leider ist diese Stelle häufig unter dem Titel „der verlorene Sohn“ bekannt und damit einseitig und kurzsichtig konnotiert. Es ist zwar plakativer, von der Situation des Unheils und Falls zu berichten, nach dem Motto: schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, aber das Evangelium will den Weg zur Freude und nicht zur Trauer weisen. Gerade das Leben des jüngeren Sohnes nimmt eine positive Wende, und ist auf die wieder gewonnene Freude hin orientiert und nicht auf die Situation des Verloren-seins. Die Zukunft des älteren Sohnes bleibt dagegen offen. Historisch steht der ältere Sohn für das Judentum, das „immer schon beim Vater war“, der jüngere Sohn symbolisiert die Kirche aus dem Heidentum. Beide brauchen in ihrer Situation eine neue Ausrichtung, um zu sich selbst, zueinander und letztlich zum Vater zu finden. Wie geschieht das in diesem Gleichnis? Menschen, die ihr Leben lang fromm und brav gelebt haben (älterer Sohn) brauchen ebenso neue und aufbauende Impulse wie charismatisch hochschwebende Christen.
Der jüngere Sohn
Er fordert von seinem Vater das „Erbteil“. Erbe des Besitzes ist der ältere Sohn, so musste der jüngere seinen Weg auswärts suchen und finden. Der Vater teilt sein „Vermögen“ auf. Im griechischen Text steht das Wort, das so viel wie „Lebensunterhalt, Leben“ (bios) bedeutet und nicht nur das vererbbare Geld meint, was der Sohn erst später verstehen wird. Aus dieser Perspektive wird die ganze Zukunft des jüngeren Sohnes noch dramatischer, besonders als er beginnt, sein „Vermögen“ zu verschleudern. Man könnte treffender übersetzen, „er setzte sein Leben und seine Lebensgrundlagen aufs Spiel“. Aber so weit sind wir noch nicht. Nach Lk 15,13 zieht es ihn zunächst „in ein fernes Land“. Er möchte einfach einmal weg und ein neues Leben beginnen, das nicht von den alt hergebrachten Konventionen und „das tut man so – oder so nicht“ geprägt ist. Das Fremde und andere wirkt häufig besonders attraktiv und verlockend, besser und schöner. So macht er sich auf die Reise und zieht weit weg, um sein Glück zu finden.
Als er sein Vermögen aufgebraucht hat, kommt zu allem Unglück auch noch eine von ihm nicht verschuldete Not dazu. Doch er hat die Lebensgrundlagen vergeudet und „es geht ihm sehr schlecht“ (Lk 15,14). Die folgenden Verse, wo er als Schweinhirt tätig ist, machen deutlich, dass alle bisherigen Beziehungen, Verbindungen und Sicherheiten zerbrochen sind. Er ist allein und isoliert. Von zuhause ist er weggegangen, die neuen „Freunde“ waren nur so lange Freunde, als er ihnen den Tisch decken und zahlen konnte. Man verweigerte ihm sogar das Futter, das die Schweine bekamen.
Gott sei Dank!, möchte ich hier einwenden. Man füttert Menschen nicht mit Schweinefutter ab. Zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben ist kein menschenwürdiges Leben und lässt eher weiterhadern als umkehren.
Umkehr und Aufbruch durch barmherzige Haltung – Hoffnung für die Eltern
Wie aber sind Neuanfang und Umkehr möglich? Welche Wege und Möglichkeiten gibt es? Die Wende und Umkehr beginnt sich da anzubahnen, wo der jüngere Sohn in sich geht. Er kann sich Gott sei Dank an eine Vergangenheit und Kindheit in der Familie erinnern, die gar nicht so schlecht war, wie er sie wahrgenommen hatte. Es wurde ihm eine gute Lebensgrundlage mitgegeben (bios), die es neu freizulegen gilt.
Möge das Hoffnung und Trost für alle Eltern sein, die sich in der Erziehung mühen und unter momentanen Situationen der Ablehnung und Nichtanerkennung ihrer Erziehungsarbeit leiden. Eltern müssen aber junge Menschen frei geben und auch schmerzhaft zusehen, wie ihre Kinder den eigenen Weg finden, sonst können sich diese nicht entwickeln und zu keinen selbstständigen Persönlichkeiten heranreifen. Der jüngere Sohn hat die Kraft gegen das Verzweifeln und kann in seiner Not in sich gehen, um die eigene Situation so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich ist, auch mit allen Schattenseiten und Blamagen. Mit dem Wahrnehmen und Annehmen der Wirklichkeit wird Umkehr erst ermöglicht (Lk 15,17). Der nächste Schritt führt eine Etappe weiter, denn nun will er etwas verändern, und er will aufbrechen. Dieses Aufbrechen hat eine doppelte Bedeutung. Es bricht etwas Zugedecktes auf, und er selbst bricht auf und macht sich auf den Weg. Es kommt nun darauf an, die gute Absicht und die Gedanken in die Tat umzusetzen.
Der Sohn deutet Teile seines bisherigen Lebens als dem Leben schadend, als Sünde. Wir tun uns nicht immer leicht mit diesem Begriff, weil er vielfach eng und eindimensional im Zusammenhang mit Gesetzeserfüllung gesehen wird oder in lächerlicher Form missbraucht wird. Was hier aufgezeigt wird, meint nicht die einzelnen Taten, sondern geht einen wesentlichen Schritt weiter. Dem Leben kommt man nicht auf die Spur, indem man Gebote erfüllt, sondern man muss zuerst deren Sinn und die dahinterliegende Güte Gottes erkennen und verstehen. Gebote ohne Sinn sind sinnlos. Der jüngere Sohn hat sich von allem losgesagt und hat sich mit seiner Lebensweise immer mehr in die Ausgrenzung und Absonderung gebracht. Sich lossagen von Gott, den Menschen und letztlich von sich selbst, tut nicht gut und diese Form der Isolation nennen wir Sünde. Das entspricht nicht dem Willen Gottes.
Umkehr ist Neuorientierung und ein über den eingeengten Horizont hinausreichendes Denken. Der Aschermittwoch mit dem Ruf zur Umkehr meint auch nicht, dass wir jedes Jahr die Richtung ändern, sondern dass wir uns bewusst Gedanken machen und versuchen, die Gedanken Gottes in unser Denken neu aufzunehmen. Umkehr (metanoein) meint in seiner tieferen Bedeutung Neuausrichtung und Neuevangelisierung im besten Sinn des Wortes. Aus der neuen religiösen Gesinnung heraus, die mit der Person und dem Handeln des Vaters konkrete Gestalt annimmt, können Taten gesetzt werden, die dem Willen Gottes entsprechen. Dem entspricht biblisch das Gebot der Liebe zu Gott, den Nächsten und zu sich selbst. Das ist es, was der Vater zum Ausdruck bringt, als er den heimkehrenden Sohn nicht auf seine Fehler hinweist, nicht den Finger zum Tadel erhebt, sondern schweigend die Arme zur Versöhnung ausbreitet und den Sohn in die Arme und damit in sein Herz schließt.
Der ältere Sohn
Der ältere Sohn steht symbolisch für Israel, das für sich beansprucht, nach dem „Willen“ des Vaters zu leben (vgl. Apg 15,29). Vor solchen Gesinnungen und Haltungen ist niemand sicher, im Grund liegt ja auch ein großer Wert dahinter. Man kann schon Verständnis für den älteren Sohn aufbringen. Während er auf dem Feld arbeitet, wird zuhause gefeiert. Da bricht bei der Begegnung nach Jahren ein alter Konflikt zwischen den Brüdern auf. Historisch gesehen sah man die Versöhnung von Griechen mit Juden als eine Anpassung, die im Judentum als tödliche Gefahr und Verwässerung wahrgenommen wurde. So wehrt sich der ältere Sohn gegen eine Aussöhnung. Zorn und Unwillen versperren ihm den Blick auf einen konstruktiven Lösungsansatz (Apg 15,28). Er tut sich schwer, das Unrecht als solches stehen zu lassen und trotzdem einen Neuanfang zu ermöglichen und dabei auch sich selbst von den negativen Gedanken zu befreien. Wie beim jüngeren Sohn kommt auch hier der Vater auf ihn zu, redet mit ihm und will ihm klar machen, dass man sich über jeden Menschen freuen muss, der auf einen guten Weg zurückgefunden hat. Hier legt das Gleichnis die Finger auf die Wunde der eigenen Selbstgerechtigkeit.
Problem zur Umkehr
Leider verhindert die Einheitsübersetzung den Blick auf die Kernbotschaft im zweiten Teil dieses Gleichnisses. Es heißt in V 29 nicht „ich habe immer deinen Willen (thelēma) erfüllt“, sondern man müsste übersetzten: „ich habe immer die Vorschriften oder Gebote (entolē) erfüllt“. Darin liegt das Problem, das im Grunde Paulus schon beschäftigte. Für einen gläubigen Menschen geht es nicht in erster Linie um „Vorschriften- oder Gesetzesgehorsam“, sondern um „Willensgehorsam“. Der Wille des Vaters heißt für beide Söhne, dass sie ein gottgefälliges und gutes Leben führen. Die Umkehr des älteren Sohnes scheint vordergründig einfacher zu sein als die des jüngeren, und doch ist sie schwieriger. Er ist zwar äußerlich fromm, aber er erkennt die größere Freude nicht. Der ältere Sohn sieht mit Neid auf den jüngeren Sohn seines Vaters. Neid lässt einem auch das nicht mehr erkennen, was man ohnehin hat, sondern sieht aus der Perspektive des Defizites nur auf die anderen. Das Gleichnis bleibt an dieser Stelle offen, was historisch der Zeit des Lukas' entspricht. Neid und Zorn sind auch heute oft große Probleme für Neuanfang und Versöhnung. Beides braucht viel Kraft, Energie, Zeit, Gerechtigkeit, guten Willen, es braucht den Blick für das Größere, es braucht Barmherzigkeit. Wir sehen, dass Barmherzigkeit keine billige herablassende Geste ist, sondern wirklich das ganze Herz fordert und alles, was an Gutem in unserem Herzen ist, fördert.
Barmherzigkeit und das Sakrament der Versöhnung – die Beichte
Gleichnisse bieten den Lesern die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Personen, Gruppen, Situationen, Haltungen oder Handlungen zu identifizieren, um größere Zusammenhänge zu erkennen und im Glauben zu wachsen. Die beiden hier handelnden Söhne tragen Züge, die wir wohl in gewissen Mischformen auch an uns selbst finden können. Das Ziel ist nicht die Nachahmung eines der beiden Söhne, auch nicht des jüngeren, sondern so zu werden wie der Vater ist und so zu handeln und zu lieben, wie er es getan hat. Aus verschiedenen Gründen wird dieses Gleichnis auch vielfach bei der Vorbereitung zum Sakrament der Beichte verwendet:
Einige Aspekte möchte ich noch herausgreifen, die in diesem Zusammenhang und für den Ablauf der Beichte interessant und wichtig sind:
- In sich gehen - der Blick auf das eigene Leben zur Vorbereitung
- Aufbrechen wollen - der eigene Wille zur Weiterentwicklung im Guten ist gefordert
- Eingestehen von Fehlern - die Größe eines Menschen liegt in dieser Haltung
- Aussprechen vor anderen - Was wir nur in Gedanken tragen, hält uns oft sehr gefangen. Es braucht das Wort, damit der Gedanke klar wird, und damit man dann auch aus der Verstrickung herauskommt. Dieses Aussprechen ist nicht einfach „reden“, sondern etwas Heiliges, ein heiliges Zeichen, ein Sakrament.
- Aussprache und Vergebung - Das Ausgesprochene wird nicht zerredet oder einfach psychologisch gedeutet. Dazu gibt es andere Fachbereiche. Es wird vergeben. Zu beachten ist hier der Unterschied von „vergessen“ – das können wir nicht so einfach, und es kann sogar helfen, Fehler nicht wieder zu begehen. „Vergeben“ – das kann ich aktiv tun. Damit löst man zumeist auch die eigenen unnötigen negativen Bindungen. Das heißt aber nicht, dass Unrecht zu Recht wird. Gerechtigkeit ist notwendig. „Versöhnung“ als nächste Stufe, zu der es immer alle Beteiligten braucht und es daher oft so schwierig ist.
- Fest des Neuanfangs - Besonders in Schulen wird nach der Beichte oft ein Fest gefeiert. Die verschiedenen Formen des Egoismus und der Distanz werden im Fest zu einem „wir“. Umkehr geschieht und erreicht man nie mit Gewalt, sondern mit Klarheit, einer stabilen Orientierung und Ausrichtung auf den Guten hin und mit Barmherzigkeit. Der barmherzige Vater will uns diesen Weg weisen, Jesus ist ihn gegangen und strahlt im Licht des Auferstandenen heller als jede Dunkelheit.
[1] Vgl. H. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz auf. Geistliche Deutung eines Gemäldes von Rembrandt, Freiburg 1991.
Johann Hintermaier