Was gibt Männern Kraft?
Männer altern anders
Der Mann jenseits der 50 ist ein in der Sozialforschung weithin unbekanntes Wesen. Während die Situation der Frauen im Alter relativ gut erforscht ist, haben sowohl die Gerontologie als auch die Männerforschung den alternden Mann als Mann meist „übersehen“. So kommt es, dass eine Reihe kritischer Lebensereignisse, die das Altern des Mannes begleiten, zu wenig beachtet und häufig verdrängt werden.
In Anlehnung an ein Modell von Hilarion Petzold basiert unsere Persönlichkeit auf fünf Säulen, die alle für ein intaktes Selbstbild, für eine gesunde Identität erforderlich sind. Ein Lebensereignis ist danach umso kritischer, je mehr es eine dieser Säulen in Frage stellt und je mehr Säulen insgesamt von diesem Ereignis betroffen sind.
I Arbeit und Betätigung
Arbeit ist für Männer die wichtigste Säule ihrer Identität. Zwar erlebt die Mehrheit der Erwerbstätigen den Übergang in den Ruhestand als entlastend und befreiend, für viele liegt er jedoch deutlich vor dem ursprünglich geplanten Ausscheiden. Nur die Hälfte aller 60-65jährigen Männer ist noch erwerbstätig. Die Entberuflichung kann zur großen Krise werden, die erhebliche Anpassungsleistungen und eine umfassende Neuorientierung erfordert, wie sie vielen Männern kaum je zuvor im Leben abverlangt wurde:
- Der Status als Ernährer und der öffentliche Status gehen verloren.
- Die Tagesstrukturierung muss neu gefunden werden.
- Neue Aufgaben, Betätigungen, neuer Sinn wollen entdeckt werden.
- Der rollenlose Zustand als Rentner bedeutet für viele, zum ersten Mal im Leben ihre Rolle selbst definieren und gestalten zu müssen.
- Die lang ersehnte Freizeit ohne Berufstätigkeit kann schnell zur unendlich langen Weile werden.
Wer diese Krise bewältigt, dem steht mit 20 bis 30 Jahren bei meist guter Gesundheit und materieller Absicherung ein zweites Leben offen. Wo Männer früher am Ende ihres Berufslebens ans Sterben dachten, kann und muss heute noch einmal ein neues Projekt in Angriff genommen werden. Diese späte Freiheit ist eine historisch völlig neue Herausforderung, für die wir noch keine Vorbilder haben.
II Soziales Netz
Nicht wenige Männer wähnen sich in einem großen Freundeskreis. Treten sie in den Ruhestand, müssen sie jedoch häufig feststellen, dass ihre Beziehungen vorwiegend beruflich gestiftet waren. So nimmt es nicht wunder, dass die früher oft an zweiter Stelle rangierende Paarbeziehung für den älteren Mann an Bedeutung gewinnt. Doch wenn der Mann nach Hause kommt, dringt er zunächst einmal in die weibliche Domäne ein. Partnerschaft, Nähe und Abstand und nachelterliche Gefährtenschaft müssen neu eingeübt und austariert werden, wenn die Beziehung im Alter tragfähig sein soll.
Männer sollten daher frühzeitig außerberufliche Beziehungen aufbauen und pflegen, sich etwa über ein ehrenamtliches Engagement in einem sozialen Netzwerk verankern. Die Großvaterrolle kann eine neue Chance darstellen, bei den eigenen Kindern Versäumtes nachzuholen. Wer keine eigenen Nachkommen hat, kann über Wahlverwandtschaften zum Mentor für Jüngere werden und damit jenseits von Fernreisen und anderem Zeitvertreib etwas mit Bedeutung für andere tun.
III Körper und Leiblichkeit
Auch wenn angeblich nur die Frauen altern und wir Männer reifen und immer attraktiver werden, geht es schon ab 30 bergab: bis 80 verlieren wir 10 Kilogramm Muskelgewebe, bis 60 hat sich der Fettanteil verdoppelt, die Prostata lässt uns im Stich und das Zentralorgan der Männlichkeit beginnt einen hängen zu lassen. Goethe brachte diesen Abbau trefflich auf den Punkt: „Der Zeiten gedenk ich, da alle Glieder gelenkig, bis auf eins. Die Zeiten sind vorüber, steif sind alle Glieder, bis auf eins.“ Die drei zentralen männlichen Jugendideale Kraft, Ausdauer und Potenz verzeichnen die deutlichsten Alterseinbußen.
Mann kann und sollte lebenslang etwas für seinen Körper tun. Regelmäßiges Training bewirkt erstaunlichen Kraft- und Konditionserhalt und bewiesen ist auch der Zusammenhang von körperlicher und geistiger Fitness. Doch Körperkult, Fitness- und Anti-Aging-Bewegung schlagen vielfach in einen Altersgesundheitsterrorismus um, der suggeriert, man könne dem Altern und dem Tod davonlaufen. Spätestens mit 50 sollte man sich entscheiden, ob man seine Jugend oder sein Alter verlängern will, ob man auf einen Verjüngungsversuch per jüngerer Frau hofft oder sich endlich von Männerzwängen befreit. Nicht mehr können kann heißen, nicht mehr um jeden Preis den Helden spielen zu müssen.
IV Materielle Absicherung
Viele Männer verdrängen die Fragen des Wohnens im Alter und wundern sich, wenn sie sich eines Tages im Pflegeheim wiederfinden. Wer nicht rechtzeitig über Alternativen nachdenkt, fällt zurück in die weibliche Welt der Heime, jene anderen Frauenhäuser in unserem Lande. Die Angst vor der Pflegebedürftigkeit und damit der Abhängigkeit, stellt die größte Bedrohung der männlichen Identität dar und wird deswegen so verdrängt.
Auch wenn „alt“ schon lange nicht mehr mit „arm“ gleichgesetzt werden kann, werden mit dem Ruhestand die finanziellen Spielräume geringer, nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden zeitlichen Entkoppelung von Berufsaustritt und Pensionsbeginn. Altersarmut ist zwar gegenüber früheren Jahrzehnten insgesamt zurückgegangen, nimmt derzeit jedoch bereits wieder zu und wird zu einem großen Problem anwachsen.
V Werte und Sinn
Ob es ein männliches Klimakterium gibt, ist unter Altersmedizinern strittig. Sinnvoll ist es, statt von der Midlife Crisis von den Wechseljahren des Mannes zu reden. Die Wechseljahre bieten die Chance für einen Wechsel der inneren Einstellung und Perspektiven. Wo die Krise in der Lebensmitte nicht bewältigt wird, können sich unklare Krankheitssymptome oder depressive Zustände einstellen. Vor diesem Hintergrund ist die erhöhte Selbstmordrate der älteren Männer einzuordnen. Sie liegt bei den alten Männern viermal höher als bei den Frauen. Wo alles, was die männliche Identität bedeutet, verloren geht, kann der Selbstmord auch als der letzte Versuch, den männlichen Selbstwert durch Selbstbestimmung und Selbstkontrolle zu erhalten, verstanden werden.
Die Entwicklungsaufgaben des Alters sind letztlich keine exklusiven Altersthemen, sondern beschreiben das, worauf es letztlich im ganzen Leben ankommt. Im Alter treten lediglich die lebenslangen Fragen des Mannseins in deutlicherer Kontur hervor und werden unabweisbarer. Wir brauchen daher keine weitere Anti-Aging-Bewegung sondern ein Bekenntnis zum klaren Pro-Aging, das sich auf die kurze Formel bringen lässt: Heute richtig leben!
Dr. Eckart Hammer war Professor für Soziale Gerontologie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und befasst sich seit vielen Jahren mit Männern & Alter(n).Was gibt Männern Kraft?