"Dass ich das noch erleben durfte …"

Johanna Ehrentletzberger wurde 1868 geboren. 1892 – kurz nach ihrer Hochzeit – begann sie, Tagebuch zu führen – das erste bekam sie von ihrer Schwester geschenkt. Jahrzehntelang schrieb sie konsequent weiter, diszipliniert und mit großer Ausdauer. „Meine Mutter hat die Tagebücher gefunden und die Kurrentschrift übersetzen lassen“, erzählt ihre Ururenkelin Julia Rumplmayr. Aus sechs Bänden wurden drei dicke Bücher. „Es ist wirklich spannend. Heute schreibt man oft emotionaler, damals war das Tagebuch eher wie eine Chronik. Aber es ist berührend, das in der Familie zu haben – und zu sehen, wie konsequent die Großmutter meines Großvaters alle Ereignisse eingetragen hat. Mich beeindruckt auch, wie akribisch sie ihre Reisen beschrieben hat – damals, als Tourismus gerade erst begann.“
Zeitzeugin bei der Domweihe
Die Aufzeichnungen von Johanna Ehrentletzberger reichen tief in den Alltag jener Zeit – mit sehr persönlichen Einträgen über ihre Töchter, Krankheiten und Verlobungen, das erste Auto, den ersten Radio und die Sommerfrische im Mühlviertel. Das Tagebuch enthält aber auch eine eindrückliche Schilderung der Domweihe 1924 – ein echtes Zeitzeugnis: „Es hat mich sehr gefreut, dieses große Fest noch zu erleben, denn es wurde am Dom bereits 60 Jahre gebaut und ich bin jetzt 56 geworden. Meine Mutter sagte immer, ihr Kinder könnt es erleben, dass der Dom fertig wird. Aber es hat eine Zeit gegeben, wo die Arbeit so langsam vorwärtsschritt, dass man dasselbe manchmal zu den eigenen Kindern sagte“, schreibt die Linzerin. Gleichzeitig beschwert sie sich über das Regenwetter während der Festtage: „Ich begreif nicht, dass der Himmel bei einer so schönen kirchlichen Feier gar kein Einsehen hatte.“
Detailliert beschreibt sie weiter, was sie in diesen Tagen erlebte: „Ich sah Dienstag in der Kirche den Auszug der hohen Kirchenväter in ihren prachtvollen Ornaten nach dem armenischen Hochamt, am Mittwoch den Zug nach dem griechischen Hochamt ... Am Abend die Lichterprozession .... Am 1. Mai war ich mit Trudi den ganzen Vormittag im Dom, am Nachmittag, von der Sparkassa auf der Promenade besahen wir den Festzug, der allerdings ganz verregnete. Am Abend ging ich mit Vater in das Konzert des Sixtinischen Chores in den Volksgartensaal ... Wir sahen durch Zufall, vom Küchenbalkon aus, das prachtvolle Feuerwerk vom Domturm, das am Mittwoch wegen des argen Regens nicht abgebrannt worden war. Es war einfach herrlich.“
Tagebuch als Tradition
Julia Rumplmayr (45) führt diese Familientradition weiter – das Tagebuchschreiben hat sie bereits früh bei ihrer Großmutter und Mutter erlebt. Als sie mit acht Jahren ein Tagebuch mit rotem Ledereinband geschenkt bekam, war das der Beginn ihrer eigenen Aufzeichnungen. „In meiner Kindheit und Jugend habe ich sehr viel geschrieben, nach dem Studium wurde es ruhiger, aber mittlerweile schreibe ich wieder fast täglich auf, was mich beschäftigt.“
Julia Rumplmayr schreibt auch beruflich viel, sie ist Journalistin und Schreibtrainerin. Und sie lebt in der Nähe jenes Mühlviertler Hauses, in dem einst ihre Ururgroßmutter die Sommerfrische verbrachte – ein Ort, an dem sich Familiengeschichte bis heute spüren lässt.
Ein Sommer wie damals
„Ich war acht, als ich mein erstes Sommertagebuch geschrieben habe – da stand drin: Ich laufe schnell zur Cousine rauf, heute backe Kuchen ich mit Oma“, erinnert sich Rumplmayr. 2021 veröffentlichte sie schließlich ein Sommertagebuch zum Ausfüllen – inspiriert von dieser Tradition und einer großen Portion Sommernostalgie.
„Ich wollte diesen zeitlosen Sommer festhalten, den viele aus ihrer Kindheit kennen – und der oft im Erwachsenenleben verloren geht“, sagt sie. Wenn sie heute ihre alten Einträge liest, sind die Orte, Menschen und Gefühle von damals sofort wieder da. „Man kann sich diesen Sommer in den Erwachsenenalltag zurückholen – ein bisschen zumindest.“
Ururgroßmutter Johanna Ehrentletzberger schrieb bis drei Wochen vor ihrem Tod – sie starb 1940. Was bleibt, ist ihr Tagebuch – und eine Tradition, die immer weitergetragen wird. Denn auch Julia Rumplmayr ist Vorbild für die nächste Generation: Ihre Kinder gestalten eigene Sommer- und Reisetagebücher – und schreiben so die Geschichte weiter.
Das Sommertagebuch gibt es unter: www.sommertagebuch.at
Text: Claudia Riedler-Bittermann