WUNDERvoll!
Das Buch:
Herbst 2009. Sandra Roth lebt mit ihrem Mann und dem aufgeweckten Kindergartenkind Ben in einem Haus in der Kölner Vorstadt. Nun ist sie mit dem zweiten Wunschkind Lotta im neunten Monat schwanger. Die Vorfreude wird jäh getrübt, als sie durch eine Routineuntersuchung erfährt, dass das Gehirn ihrer Tochter durch eine seltene Gefäßfehlbildung nicht ausreichend mit Blut versorgt wird. Die Konsequenzen dieser Vena Galeni-Malformation sind für die Ärzte nicht vorhersehbar:
"Ihr Kind ist eine WUNDERtüte", sagt mir ein Arzt.
WUNDERtüte, das klingt nach Brausepulver und Knallerbsen. Kinderglück. Ich lächele, Lotta in meinen Armen. "Klingt doch schön."
"Na ja", sagt er und zögert. "Wann haben Sie das letzte Mal eine WUNDERtüte ausgepackt? Da ist immer auch Kram drin, den Sie nie haben wollten."
Wird Lotta laufen können? Reden? Lächeln?
"Man weiß nie, was drin ist", sagt der Arzt. [1]
Kein Arzt weiß, ob Lotta nach der Geburt überhaupt weiterleben wird. Doch die kleine Lotta ist stark – sie verbringt viel Zeit auf der Intensivstation und übersteht mehrere schwere Operationen. Für Lottas Familie beginnt eine emotionale Berg- und Talfahrt. Sie wird damit konfrontiert, was es heißt, mit einem behinderten Kind in einer Gesellschaft zu leben, die alles unternimmt, um Behinderungen und Krankheiten abzuschaffen. Sie erlebt die Reaktionen von Freunden, Nachbarn und Kollegen. Sie fragt sich nach Lottas Zukunft: Stehen ihr Einschränkung und Ausgrenzung bevor? Oder wird sie Annahme und Liebe erfahren?
Schließlich kommt ans Licht: Lotta ist stark sehbehindert, hat Epilepsie sowie eine ausgeprägte Spastik. Ihre Entwicklung verläuft in Zeitlupe. Doch Lotta sorgt für viele WUNDERbare Momente im Leben von Sandra Roth und ihrer Familie:
"Lottas Fortschritte sind WUNDERkerzen. Bei Tageslicht sind sie fast unsichtbar, doch bei Nacht glitzern sie wie Sterne, die vom Himmel gefallen sind. Man muss im Dunkeln stehen, um zu sehen, wie schön sie sind."[2]
In ihrem Buch erzählt Sandra Roth ganz offen von den ersten drei Jahren mit Lotta – Jahre voller Kämpfe und Rückschläge, voller Überraschungen und Wendungen, voller Freude und Leid.
Sandra Roths Buch ist eine WUNDERvolle Liebeserklärung an ihre Tochter und ein WUNDERbares Plädoyer für Inklusion. Ein Buch, das berührt und bereichert. Ein Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Ein Buch, das betroffen macht. Ein Buch, das ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Ein Buch, das uns auch lachen lässt. Ein Buch, das Mut macht. Ein Buch, das Trost spendet. Ein Buch, das zeigt, dass schwierige Augenblicke mit Optimismus und Humor leichter zu bewältigen sind.
Mit ihrem Buch vermittelt die Autorin: "Um Glück zu empfinden, muss man nicht laufen können, um zu lieben, nicht sehen können. So selbstverständlich das klingt, ich musste es erst lernen. Wenn Ben Fahrrad fahren lernt, ist es ein WUNDER, das wir beklatschen, bei Lotta ist es ein WeltWUNDER, wenn sie ihre Knie knickt. Es sind andere erste Male, doch sie machen mich nicht weniger stolz."[3]
Mit berührenden Worten beschreibt Sandra Roth in einem Interview mit Mareice Kaiser (27. Januar 2015) den Blick, den sie inzwischen auf ihre Kinder hat: "Meine Tochter ist schwer mehrfach behindert. Wegen ihrer körperlichen Behinderung sitzt sie im Rollstuhl, wird geschoben, gefüttert, gewickelt. Sie hat ab und zu epileptische Anfälle. Sie ist blind, ist jetzt fünf Jahre alt und kann so gut wie nicht sprechen. Sie so zu beschreiben ist für mich mittlerweile so, als würde ich von meinem Sohn sagen: Er ist sieben und kann immer noch nicht fliegen. Wenn ich Lotta anschaue sehe ich nicht ein Kind, das nicht laufen kann, sondern eines, das es seit kurzem schafft, mit einer Hand einen Knopf zu drücken und so das Massagekissen hinter seinem Rücken anzuschalten. Ein Mädchen, das gerne und oft lacht, das Musik liebt und seinen großen Bruder selbst dann noch toll findet, wenn er sie halb erdrückt."[4]
Und so lässt sich Sandra Roths Wunsch nach Natürlichkeit im Verhalten gegenüber Lotta und ihrer Familie, der Wunsch nach Natürlichkeit im Umgang mit dem Thema Behinderung gut nachempfinden. Denn Kinder in Lottas Kindergarten können, was viele Erwachsene verlernt haben: sie gehen natürlich mit dem Thema um und sehen nicht den Rollstuhl, die Behinderung, sondern einfach das Kind, den Menschen.
Mitleid ist nicht gefragt, sondern Akzeptanz und aufrichtige Annahme – ist das nicht auch ein Anstoß, das eigene Verhalten einmal genauer unter die Lupe zu nehmen: Schauen wir beschämt zur Seite, wenn wir unterwegs auf einen Menschen mit Behinderung treffen? Oder schenken wir ihm ein ehrliches, WUNDERvolles Lächeln?
Sandra Roth (2013): Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 272 Seiten. ISBN: 978-3-46204-566-6.
Die Autorin:
Sandra Roth (*1977) studierte Politikwissenschaft und Medienberatung in Bonn, Berlin und in den USA. Nach ihrem Studienabschluss besuchte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitet seither als freie Autorin, u.a. für "Die Zeit" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Köln.
Quellenangaben:
[1] Roth, Sandra (2013): Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl. Köln: Kiepenheuer & Witsch. S. 72.
[3] Roth, Sandra (2012): Dass es dich gibt. (12. Januar 2012). URL: http://www.zeit.de/2012/03/Kind-Behinderung/komplettansicht [Stand: 12/2016]
[4] Kaiser, Mareice: Und wie machst du das, Sandra? (27. Januar 2015). URL: http://kaiserinnenreich.de/2015/01/27/und-wie-machst-du-das-sandra/ [Stand: 12/2016]