GRUNDvertrauen
Auf etwas mehr als sechzig Seiten erzählt Pierre Stutz in seinem im Januar 2017 bei Patmos erschienenen Buch "Die spirituelle Weisheit der Bäume" von seinem inneren Dialog mit Bäumen, von seinen Erkenntnissen durch die Weisheit der Bäume – und das mit ganz verschiedenen Textsorten. Doch eines gilt immer, auf welche Weise er seine Erkenntnisse auch präsentiert: Seine poetische Sprache ist voller Kraft – in lyrischen wie erzählenden Texten.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Schweizer Autor mit der Weisheit der Bäume beschäftigt. Bereits 2004 veröffentlichte er "Baum-Zeichen". 2010 folgte "Halte Ausschau nach den Bäumen". Und mit "Die spirituelle Weisheit der Bäume" macht er sich nun gemeinsam mit den Leserinnen und Lesern auf eine intensive und inspirierende Entdeckungsreise in die Welt der Bäume. Fünf große Themen behandelt der geistliche Begleiter und spirituelle Lehrer: "Bäume begleiten mich", "Wurzeln", "Aufblühen", "Wachsen und reifen" sowie "Gemeinsam".
Bäume als Begleiter
Von Kindesbeinen an faszinierten und begleiteten Bäume den Schweizer. Und so wundert es nicht, dass eine Welt für ihn zusammenbrach, als sein Lieblingsbaum – eine Birke, der er alles anvertraut hatte – eines Morgens gefällt wurde: "Ich fühlte mich nackt, ungeschützt, umhüllt von einer Verlorenheit, die meine zerbrechlichen Seiten freilegte..."[1] – diese schmerzliche Erfahrung machte Bäume zu spirituellen Begleitern im Leben des Autors. Mit ihnen begibt er sich immer wieder in inneren Dialog. Berührend erzählt der einfühlsame Seelsorger, wie Bäume ihn ermutigen, seinen eigenen Weg zu gehen – unvollkommen, kraftvoll, verletzlich, vertrauensvoll und voller Freude.
Wurzeln
Wurzeln eröffnen Stutz eine befreiende Lebensperspektive, wie dieser kluge Satz beweist: "Je tiefer deine Wurzeln sind, umso mehr kannst du dich auf die Äste hinauswagen und du verlierst die Angst vor dem Fremden."[2]
Mit seinen Texten ermutigt Stutz die Leserinnen und Leser, verwurzelt zu sein und sich dabei doch frei zu fühlen. Er lädt mit seinen Texten dazu ein, einmalig zu sein, den eigenen Platz zu finden und sich Zeit zum Wachsen zu lassen: Jahr für Jahr die Ringe verdichten, Monat für Monat der Krone des Reifens trauen, Tag für Tag man selbst werden und über sich hinauswachsen. Stutz steht für eine Spiritualität, die befreit und nicht einengt.
Aufblühen
Stutz lässt sich von dem amerikanischen Dichter Henry David Thoreau inspirieren, den die Bäume die Muße zum wirklichen Leben entdecken ließen. Dieser Dialog mit den Bäumen macht frei: "Wer sich dem Leben in die Arme wirft, wer Hingabe wagt, der wird zum Aufblühen befreit und zur Annahme eigener Begrenztheit."[3] Auch auf die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen bezieht sich der Schweizer, die in ihrer Gesundheitslehre auf die Heilkraft der Bäume – auch im Hinblick auf einen gesunden Lebensrhythmus – verweist. Stutz vermittelt einfühlsam, dass Bäume im Frühjahr die Kunst des Aufblühens, im Herbst die Kunst des Loslassens lehren. Und er zitiert als Resümee schließlich den Mystiker Pierre Teilhard de Chardin: "Mit dem Werden eins zu sein, das ist meine Lieblingsformel geworden, die Formel meines Lebens."[4]
Aufblühen. Den Duft der Fülle ausströmen lassen. In seinem Element sein. Genießen, wie Schöpfung sich ereignet. Vielfältig sein, ohne sich dafür zu entschuldigen. Zärtlich miteinander sein, ohne den Freiraum zum Wachsen zu verlieren. Sich in seiner Vielfalt ergänzen, ohne den Blick auf eine gemeinsame Ausrichtung zu verlieren. All das thematisiert Stutz auf ganz feine, wunderbare Weise – und die Leserinnen und Leser blühen bereits beim Lesen auf.
Wachsen und Reifen
Welches sprachliche Bild könnte besser geeignet sein für's Wachsen und Reifen als jenes von Rainer Maria Rilke, in dem er von den "wachsenden Ringen" spricht? Stutz weiß, wie nahe kraftvolles Wachsen und verwundetes Reifen beeinander liegen. Wunderschöne Sprachbilder (die Stutz gekonnt und gezielt einsetzt) wie "Bäume werden mir zum Sinn-Bild von Auf-richtigkeit."[5] ergänzen die Gedanken rund um Wachsen und Reifen.
Seine Leidenschaft und Begeisterung für Filme kommt auch nicht zu kurz, indem er mit Hilfe des Dokumentarfilms "Das Geheimnis der Bäume – erzählt von Bruno Ganz" (2013) von Luc Jacquet zum Einsatz für den Schutz von Bäumen aufruft – aktiv und engagiert.
Welche Freude, gemeinsam mit Pierre Stutz himmel- und herzwärts zu schauen – auf die "bewegte Ruhe der Bäume"[6] und ihre Weisheit. Sie zeigen: An Verwundungen kann man wachsen. Man darf Verletzlichkeit und Zebrechlichkeit zulassen. Man muss nichts überspielen. Diese Weisheit vermittelt Pierre Stutz auf höchst poetische Weise. Und er zeigt, wie bedeutsam Schutzräume, Rückzugsplätze und Kraftorte für den Menschen sind, denn sie ermöglichen "Durch-blick", "Durch-atmen" und schenken "Boden-ständigkeit". Eine Einladung, selbst zum Friedensbaum zu werden.
Gemeinsam
Auch in diesem Abschnitt kommt Stutz' Filmleidenschaft zum Tragen: Die Sozialkomödie "El Olivo – Der Olivenbaum" (2016) der spanischen Regisseurin Icíar Bollaín bringt für ihn das Symbol der Verbindung zwischen den Generationen zum Ausdruck. Man spürt förmlich, wie sehr ihn dieser Film berührt, in dem die zwanzigjährige Alma um die Rückkehr eines alten Olivenbaums nach Spanien kämpft, den ihre Eltern in der Finanzkrise an ein deutsches Unternehmen verkauft haben, obwohl dieser für sie und ihren Großvater von großer Bedeutung war.
Stutz' Texte fordern dazu auf, Sorge zu tragen für die Schöpfung, solidarisch und engagiert zu handeln und liebend-segnend unterwegs zu sein. Was ist das doch für ein wunderbarer Gedanke, durch ökologisches Handeln für die gesamte Schöpfung Erde und Himmel segnend zu verbinden. Sich begleiten lassen, sich unterstützen lassen, sich ermutigen lassen von Weggefährten. Sich verwurzeln in der Tiefe der Hoffnung, in der Tiefe der Liebe und in der Tiefe des Glaubens – daraus schöpft Pierre Stutz Kraft und mit der Artikulation derselben schenkt er auch den Leserinnen und Lesern seines Buches Inspiration und Mut.
Augenblicke vom Heute als Begleiter für's Morgen
Erklärtes Ziel der freiberuflichen Fotografin Andrea Göppel ist es, "Augenblicke vom Heute als Begleiter für's Morgen"[7] festzuhalten – und das gelingt ihr in diesem Buch wirklich fantastisch. Stimmungsvoll ist ihre Bildsprache, die Bilder sind passend gewählt. Ihre Fotos fangen Stimmungen der Natur ein, die andere vielleicht gar nicht wahrnehmen. Mit ihren Bildern verleiht sie dem Buch eine ganz besondere Tiefe: ihre Aufnahmen von romantischen Alleen, mächtigen Kronen, einfallendem Licht in Wälder, knorrigen Wurzeln, unbeschreiblichen Blätterdächern, ausdrucksstarken Stämmen, lieblichen Streuobstwiesen, prachtvollen Blüten, versteckten Waldwegen, ausladenden Ästen, aussagekräftigen Blicken gen Himmel oder Spiegelungen in Gewässern sind nicht nur Rahmen oder Ergänzung, sie sind gleichberechtigte Partner der spirituellen Texte von Pierre Stutz.
Nicht nur für jene, die Bäume lieben...
Das Buch einfach auf einer beliebigen Seite aufschlagen und eintauchen in die Gedanken von Pierre Stutz und die Fotografien von Andrea Göppel: Lyrische Texte begegnen darin erzählenden, kongenial begleitet von Naturaufnahmen. Texte wie Fotos ermutigen die Leserinnen und Leser dazu, ihre Einzigartigkeit, ihre Vielfältigkeit, ihre Freiheit und ihre Wachstums- und Reifemöglichkeiten zu entdecken. Und all das: tief verwurzelt, damit man sich mit dem Himmel verbinden kann.
Einziges Manko des Büchleins: Als Leserin oder Leser hätte man gerne noch mehr davon, weil die Gedanken berühren, zum Nachdenken einladen und die Fotografien uns in den Wald des Lebens mitnehmen. Doch es gibt einen kleinen Trost: Bei jedem neuen Blick ins Buch entdeckt man wieder einen neuen Gedanken, eine neue Inspiration. Ein Buch also nicht nur für all jene, die Bäume lieben...
Buchtipp:
Pierre Stutz (2017): Die spirituelle Weisheit der Bäume. Eine Entdeckungsreise. Mit Fotografien von Andrea Göppel. Ostfildern: Patmos-Verlag. 64 Seiten. ISBN: 978-3-84360-875-6.
Bestellmöglichkeit beim Patmos-Verlag
Anmerkungen:
[1] Stutz, Pierre (2017): Die spirituelle Weisheit der Bäume. Eine Entdeckungsreise. Mit Fotografien von Andrea Göppel. Ostfildern: Patmos-Verlag. S. 7.