HIMMELsboten
Engel anderen Kalibers
(Zu Lukas 1,26–38)
Ernst nimmt sie eigentlich keiner mehr,
diese kleinen, geflügelten Wesen
in ihren Rauschgoldmänteln,
mit ihren zarten, lieblichen Gesichtern.
Und dass es sie gar wirklich geben könnte,
das ist schier undenkbar.
Aber einmal im Jahr
feiern die Engel ein Fest der Auferstehung.
Zur Advents- und Weihnachtszeit
kramen wir diese verstaubten Relikte einer längst
vergangenen Frömmigkeit
wie selbstverständlich hervor.
Sie stehen auf Gabentischen,
hängen an unsichtbaren Fäden in Fenstern,
Engelhaar schmückt Tannenbäume,
in unzähligen Weihnachtskrippen haben sie einen
unangefochtenen Stammplatz.
Die einen singen,
die anderen musizieren auf Leiern, Trompeten,
Pauken und Orgeln
nach Leibeskräften.
Die stärksten unter ihnen,
die pausbäckigen Porzellanengel,
tragen schwere Kerzen.
Weihnachten –
eine Hoch-Zeit für Engel.
Das einzige Mal im Jahr,
wo sie selbstverständlich dazugehören
zu unserer Welt.
Sie ist dann wie verzaubert,
und die Engel sind Teil dieses Zaubers.
Verschwinden sie deshalb so schnell wieder
in den Schubladen,
weil ihr Zauber zu schwach ist?
Der Zauber einer weihnachtlich-heilen Welt –
wie schwer ist es,
ihn über den Heiligabend zu retten und
gegen den Alltag zu verteidigen!
Wie schwer ist es,
ihn überhaupt aufkommen zu lassen,
wenn heile Welt nur an Heiligabend ist,
perfekt inszeniert,
aber unecht.
Nein, wirklich –
diese zierlichen Engelchen,
diese zaghaften, süßlichen Boten von Harmonie
und Freude,
diese Art von Engeln wird es immer schwer
haben,
in unserer Welt Fuß zu fassen.
Ihr Zauber ist zu schwach.
Also, ab damit in den Karton
bis nächstes Jahr Weihnachten.
Damit aber ist erstens
diese Predigt noch nicht zu Ende
und zweitens
die Sache der Engel noch nicht erledigt.
Der Evangelist Lukas stellt uns heute
einen Engel anderen Kalibers vor.
Sein Name: Gabriel.
Ob er Flügel hat,
und welches Gewand er trägt,
ob ihn mehr männliche oder weibliche Züge
zeichnen,
und wie er aussieht –
über all das lässt uns Lukas in Unkenntnis.
Es interessiert ihn nicht.
Die Botschaft an Maria,
die Gott ihr durch Gabriel ausrichten lässt,
darauf kommt’s ihm an.
Nun ist Maria nicht die Erste
und auch nicht die Letzte,
der Gott in der Vision eines Engels
eine besondere Botschaft hat zukommen
lassen.
Angefangen von Abraham bis hin zu den Aposteln
Petrus und Paulus
berichtet die Bibel von solchen Erscheinungen.
Engel haben also Erfahrung
in Botengängen für Gott.
So unterschiedlich auch die Inhalte dieser
Botschaften sind,
ein Satz gehört so gut wie immer dazu:
FÜRCHTE DICH NICHT!
Fürchte dich nicht!
Dies einmal auszusprechen reicht Lukas nicht.
Zuerst verkündet ein Engel dem Zacharias
die Geburt Johannes‘ des Täufers,
dann der Engel Gabriel bei Maria,
schließlich die Engel bei den Hirten:
Drei Engelvisionen,
und dreimal begrüßen sie die Adressaten ihrer Botschaften:
Fürchte dich nicht.
Es ist so,
als ob Gott seinem Sohn
einen angstfreien Raum schaffen will,
in den er hineingeboren werden soll.
Wo Gott ist,
da haben Angst und Furcht kein Bleiberecht.
Das ist die Aufgabe der Engel:
Im Namen Gottes Angst zu tilgen.
Selbst unsere Rauschgoldengel,
billiger Abklatsch ihrer biblischen Vorbilder,
vermögen das noch in uns wachzurufen:
Die Ursehnsucht nach einer heilen, angstfreien
Welt.
Doch ihrem himmlischen Zauber
trauen wir nicht mehr,
die Tage der Engel sind gezählt,
nach Weihnachten läuft ihre Uhr ab.
Und wenn auch die Kirche bekennt:
Gabriel und all die anderen Engel –
sie sind Geschöpfe Gottes, es gibt sie –
so tun sich gewiss nicht wenige schwer
mit den Engeln.
Was also wird aus der Botschaft der Engel,
wenn die Engel selbst fragwürdig geworden sind?
Fürchte dich nicht –
diese Zusage hängt nicht an der Existenz der
Engel.
Gott selbst ist ihr Garant.
Davon zeugen auch die Namen der Engel.
Sie enden alle auf –el.
Das ist Hebräisch und heißt: Gott.
Gabriel – Der Starke Gottes
Michael – Wer ist wie Gott?
Rafael – Gott heilt
Uriel – Licht Gottes
Die Namen der Engel machen deutlich:
Hier geht’s um Gott,
nicht um die Engel.
Fürchte dich nicht!
Gottes Botschaft am Tage vor Weihnachten.
Wer unterdrückt und in Angst und Schrecken
gehalten wird,
den befreit diese Botschaft,
nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen,
die Herrschaft der Angst und Angstmacher
zu überwinden.
Wem vor sich selbst graut,
dem spricht sie Mut, Hilfe und Selbstverstrauen zu.
Wen Gott ängstigt,
dem sagt sie:
Gott ist ein Gott,
der der Furcht ein Ende setzt.
Schön und gut soweit.
Gott will also Furcht und Angst von uns nehmen.
Ist’s aber nicht so,
dass dieses Vorhaben Gottes genau das gleiche
Schicksal ereilt,
wie unsere Rauschgoldengel?
Die Engel und Gottes Botschaft,
die sie verkünden – Fürchte dich nicht –
sie überleben das Weihnachtsfest nicht lange,
und dann geht alles so weiter wie gehabt.
Wir torkeln mit einer Katerstimmung
vom Rausch und Hochgefühl
der Weihnacht in den Alltag.
Es bleibt der fade Nachgeschmack:
Diese verzauberte Welt –
letztlich nichts anders als eine
Drei-Tage-Illusion.
Zweifelsohne,
die Gefahr ist groß,
dass das so kommen wird.
Und es wird auch dieses Jahr Weihnachten
so kommen,
wenn Gottes Botschaft vom Ende der Furcht
keine Boten, keine Engel finden wird.
Boten,
die an sie glauben,
auf sie hoffen und vertrauen,
es vielleicht selbst schon erlebt haben,
die sie weitererzählen.
Wenn das
„Fürchte dich nicht“
– die Botschaft Gottes –
keine Boten mehr findet,
dann bleibt’s zum Fürchten in dieser Welt.
Unser kleiner Rauschgoldengel –
vielleicht mag er doch noch zu etwas nützlich
sein:
Er kann uns an seine großen Brüder erinnern,
die wirklichen Engel,
an ihre froh machende Botschaft,
und dass es diese Boten braucht.
Darum:
Fürchtet euch nicht!
(Stefan Scholz)
Quellenangabe:
Text: Scholz, Stefan: Engel anderen Kalibers. In: Scholz, Stefan (2002): Spurensuche. Texte zu Advent und Weihnachten. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet. S. 47–54.