Louis Vierne: Tod an der Orgel
Louis Victor Jules Vierne wurde am 8. Oktober 1870 im westfranzösischen Poitiers als Sohn des Journalisten Henri Vierne geboren. 1873 zog die Familie nach Paris. Dort entdeckte der Organist und Komponist Charles Colin (1832-1881) die Begabung seines Neffen und ermunterte ihn zum Klavierspiel.
Schlüsselerlebnis auf dem Weg zum Orgelspiel
Der von Geburt an wegen grauen Stars beinahe blinde Junge erhielt so bereits im Alter von sechs Jahren Klavierunterricht. Mit sieben Jahren erlangte der kleine Louis durch eine Augenoperation schließlich ausreichend Sehkraft, um sich im Alltagsleben selbständig zurechtzufinden und Großgedrucktes auch lesen zu können. In diese Zeit fällt auch die erste tief berührende Begegnung mit der Orgel und ihrem Klang.
Ab 1880/81 erhielt er Unterricht bei Specht (Klavier) und Adam (Violine), die an der Pariser Institution Nationale des Jeunes Aveugles, der 1874 gegründeten weltweit ersten Blindenschule mit Musikkonservatorium für junge Menschen, lehrten. In dieses Jahr fällt auch Viernes erste Begegnung mit César Francks Orgelspiel in Sainte-Clotilde, über die er später schrieb: „Ich war fassungslos und geriet in eine Art Ekstase.”[1] Als „Offenbarung” bezeichnete er dieses Schlüsselerlebnis in seinen Memoiren. Es folgte schließlich ab 1887 Orgelunterricht bei Louis Lebel und nach Lebels Tod bei Adolphe Marty. Ab 1889 studierte er bei César Franck am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris (Pariser Konservatorium) – dieses schloss er 1894 nach Francks Tod bei dessen Nachfolger Charles-Marie Widor mit dem „Premier Prix d’Orgue” in Orgelspiel und Improvisation ab und wurde dort Widors Assistent in der Orgelklasse. Bereits 1892 hatte dieser ihn zum Stellvertreter an der – weltberühmten und bis heute kaum veränderten – Cavaillé-Coll-Orgel in Saint-Sulpice, die zu den Hauptwerken spätromantisch-sinfonischen Orgelbaus gilt, gemacht.
1900 erhielt er schließlich – nachdem man ihn mehrmals bei Bewerbungen übergangen hatte – die Stelle als Titularorganist an der Kathedrale Notre-Dame de Paris, wo er die von 1863 bis 1868 erbaute, 86 Register zählende Orgel des Pariser Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll mit expressiven Klangmalereien zu neuem Leben erweckte. Eine prominent besetzte Kommission hatte ihn am 21. Mai 1900 einstimmig gewählt – und diese prestigeträchtige, aber schlecht bezahlte Stelle behielt Vierne auch bis zu seinem Tode. Daneben arbeitete er bei Félix-Alexandre Guilmant, Widors Nachfolger als Orgelprofessor am Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris, bevor er 1911 kündigte und zur „Schola Cantorum” wechselte. Im Laufe seiner Lehrtätigkeit unterrichtete er Organisten wie Maurice Duruflé, Alphonse Schmitt, Augustin Barié, Lili Boulanger, André Fleury und Adrien Rougier.
Zahlreiche Rückschläge musste der Organist erleiden, die er in seinen Aufzeichnungen als „pure Aneinanderreihung von Katastrophen”[2] bezeichnete: 1906 musste er nach einem komplizierten Beinbruch seine Technik für das Pedalspiel neu erlernen, 1907 erkrankte er an Typhus, später an grünem Star, was schließlich zur völligen Erblindung führte. 1909 wurde er von seiner Frau, der Sängerin Arlette Taskin, geschieden (geheiratet hatte er diese 1899). Ab 1916 hielt er sich wegen seines Augenleidens mehrere Jahre (geplant waren eigentlich nur ein paar Monate) in einem Schweizer Sanatorium auf, wofür sein gesamtes Vermögen genutzt werden musste. In Notre-Dame vertrat ihn Marcel Dupré. 1917 wurde sein Sohn Jacques, der gegen den ersten Weltkrieg protestiert hatte, standrechtlich erschossen. 1918 kam sein Bruder René (ebenfalls Komponist und Organist) in der Nähe von Verdun bei der Explosion einer österreichischen Granate ums Leben. In den 1920er-Jahren folgten trotz dieser Katastrophen Konzerttourneen durch Europa, nach Kanada und in die USA, die ihm Geld für die Renovierung und den Umbau seiner durch die Kriegseinflüsse sehr heruntergekommenen Orgel in Notre-Dame einbrachten. Auf seiner Amerika-Reise erlitt er allerdings einen Herzinfarkt und sein gesundheitlicher Zustand nahm rapide ab. Mit Schlaf- und Beruhigungstabletten versuchte er, seine Depressionen zu lindern. Denn 1925 hatte man Vierne abermals übergangen, denn als Eugène Gigout starb, ernannte man Dupré zu dessen Nachfolger am Pariser Konservatorium und nicht Vierne. Trotz aller internationalen Anerkennung als Musiker zerbrach der Organist letztlich an seinen Schickalsschlägen.
Tod an der Orgel
Am 2. Juni 1937 schließlich geschah es. Gemeinsam mit Maurice Duruflé gestaltete Vierne ein Orgelkonzert (übrigens sein 1750. Konzert!) für „Les Amis de l'Orgue” in Notre-Dame. Der Organist starb am Spieltisch seiner Orgel in Notre-Dame an den Folgen eines Gehirnschlags – so geht es aus dem Bericht seines Schülers Duruflé hervor: „Vierne hatte soeben mit großem Ausdruck sein letztes Werk, das 'Triptyque', gespielt. Ich stand neben ihm, um zu registrieren. Als er den letzten Satz des Triptyque ('Stèle pour un enfant défunt') begann, wurde er blaß, seine Finger hingen förmlich an den Tasten und als er seine Hände nach dem Schlußakkord abhob, brach er auf der Orgelbank zusammen: Ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen. An dieser Stelle des Programms sollte er über das gregorianische Thema 'Salve Regina' improvisieren. Aber anstelle dieser Hommage der Patronin Notre-Dames hörte man nur eine einzige lange Pedalnote: Sein Fuß fiel auf diesen Ton und erhob sich nicht mehr.”[3]
Viernes letztem Wille zufolge sollte die Orgel von Notre-Dame bei seinem Trauergottesdienst schweigen und schwarz verhüllt sein. Einzig gregorianische Gesänge erklangen, bevor Vierne auf dem Friedhof Montparnasse in der Nähe seiner Wegbegleiter César Franck, Félix-Alexandre Guilmant, Vincent d'Indy und Camille Saint-Saëns beigesetzt wurde.
Quellenangaben:
Hollingshaus, Markus Frank (2006): Louis Vierne. In: Finscher, Ludwig (Hrsg.) (2000): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil Strat-Vil. Kassel / Stuttgart: Bärenreiter / Metzler. Spalte 1571-1573.
Kleine, Matthias Paulus (o.A.): Louis Vierne – mit und ohne Tabak in Notre Dame. In: Musik und Theologie. Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche. URL: http://www.musikundtheologie.de/28.html [Stand: 05/2017]
Laukvik, Jon (2010): Vorwort. In: Vierne, Louis: Messe solennelle en ut dièse mineur, op. 16. Bd. 14. Leinfelden-Echterdingen: Carus. S. 3.
o.A. (o.A.): Louis Vierne (1870-1937). URL: https://www.carus-verlag.com/personen/louis-vierne/ [Stand: 05/2017]
Steinhaus, Hans (Hrsg.) (2004): Louis Vierne: Meine Erinnerungen. Köln: Dohr.
Bild: Inauguration de la restauration des orgues de St.-Nicolas du Chardonnet, le 8 décembre 1927. Aux claviers Louis Vierne, de profil Paul Koenig / cliché Agence Rol. (Link zur Bild: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8425580x / Gallica Digital Library: ID btv1b8425580x). © Gallica Digital Library
Anmerkungen:
[1] Steinhaus, Hans (Hrsg.) (2004): Louis Vierne: Meine Erinnerungen. Köln: Dohr. S. 15.
[2] Zitiert nach: Kleine, Matthias Paulus (o.A.): Louis Vierne – mit und ohne Tabak in Notre Dame. In: Musik und Theologie. Journal für Orgel, Musica Sacra und Kirche. URL: http://www.musikundtheologie.de/28.html [Stand: 05/2017]
[3] Duruflé, Maurice (o.A.): Meine Erinnerungen an Tournemire und Vierne (Original: Mes Souvenirs sur Tournemire et Vierne). In: L'Orgue No. 162. Zitiert nach: Hielscher, Hans Uwe (Hrsg.) (1981): Französische Orgelkunst der Spätromantik. Beiträge zu den wichtigsten französischen Orgelkomponisten dieser Epoche: Vierne, Tournemire, Widor, Duruflé, Dupré. Wiesbaden: Hans Uwe Hielscher. S. 28-34.