O Haupt voll Blut und Wunden
Passion. Ein Wort, in dem beides mitschwingt – das Leid und die Leidenschaft. In besonderer Weise erklingt die Verbindung von Leid und Leidenschaft auch in dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“.
„So wird die Passion zur compassion. Aus Leiden wird Mitleiden. Solidarität.“
(Klaus Nagorni, SWR 2 Lied zum Sonntag, 13. April 2014)
„O Haupt voll Blut und Wunden“. DAS Lied des Karfreitags. Ein Kirchenlied, bei dem gleich zwei Dichter im Spiel sind – ein katholischer Abt und ein protestantischer Pfarrer der Barockzeit. Denn der protestantische Pfarrer und Kirchenlieddichter Paul Gerhard (1607–1667) übersetzte den lateinischen Hymnus „Salve caput cruentatum“ 1656 ins Deutsche – als Textdichter des lateinischen Hymnus galt damals Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), heute wird der Text Arnulf von Löwen (um 1195–1250), dem Abt eines Zisterzienserklosters in Brabant, zugeschrieben.
Die Melodie des Liedes stammt aus der Feder von Hans Leo Hassler (1564–1612) - zunächst war diese nicht mit dem Kirchenlied verbunden, sondern mit dem weltlichen Liebeslied „Mein G’müt ist mir verwirret“, das erstmals 1601 in Hasslers „Lustgarten neuer teutscher Gesäng“ erschien. Die Melodie des Passionsliedes im phrygischen Modus stellt eine rhythmisch vereinfachte Fassung des Liebesliedes dar. Aus einem Liebeslied wurde ein Passionslied – angesichts der Liebe, die stärker ist als der Tod, die am Karfreitag in den Blick genommen wird, erscheint dies äußerst stimmig. Auch Pfarrer Klaus Nagornis Liedbetrachtung im Rahmen der Reihe „SWR 2 Lied zum Sonntag“ betont einen ähnlichen Aspekt: „In der ersten Strophe sehen wir Jesus am Kreuz. An seinem Gesicht ist sein Leiden abzulesen. Ein Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn. Wir aber sind Zeugen und Beobachter dieses Vorgangs. Dann aber – wenige Strophen später – voll zieht ein Rollenwechsel. Wir bleiben nicht länger Zuschauer. Sondern rücken selbst ins Bild. ‚Ich will hier bei dir stehen‘, singt der Chor. Und drückt damit aus: Wir wollen nicht nur Zuschauer dieses Geschehens sein. Sondern stellen uns auf die Seite des Leidenden. Gerade auch in der äußersten Zuspitzung des Leidens. Im Tod. So wird die Passion zur Compassion, zur compassion. Aus Leiden wird Mitleiden. Solidarität.“
Bereits im Jahr 1613 war die Melodie im Liederbuch „Harmoniae sacrae“ für Christoph Knolls (1563–1621) Text „Herzlich tut mich verlangen nach einem sel’gen End“ verwendet worden. Und mit diesem Text war das Lied zu Gerhardts Zeiten auch in lutherischen Pfarrgemeinden bekannt.
Johann Sebastian Bach (1685–1750) verwendete schließlich einzelne Strophen des Liedes und verband sie mit dem Text von Paul Gerhardt in der Matthäuspassion, BWV 244. Daneben sind Melodie und Text des Chorals in verschiedenen anderen Werken Bachs zu finden, zum Beispiel die sechste Strophe des Chorals in der Kantate „Sehet! Wir geh’n hinauf gen Jerusalem“, BWV 159, oder die Melodie des Chorals im Weihnachtsoratorium, BWV 248, auf den Text „Wie soll ich dich empfangen“, ebenfalls aus der Feder von Paul Gerhardt. Zahlreiche andere Komponisten ließen sich auch von dem Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ inspirieren – darunter unter anderem Johann Nepomuk David, Josef Friedrich Doppelbauer, Franz Liszt, Felix Mendelssohn Bartholdy, Johann Pachelbel, Max Reger, Joseph Gabriel Rheinberger oder Georg Philipp Telemann. Insbesondere Orgelbearbeitungen sind bei der Rezeption häufig vertreten. Das Lied, das den Blick auf eindrückliche Weise auf das von Folter und Leiden gezeichnete Gesicht Jesu richtet, fand Einzug in das Evangelische Gesangbuch (EG 85) sowie in das katholische Gotteslob (GL 289). Der Choral wurde in den 1960er-Jahren übrigens sogar in den USA rezipiert – durch die Folkgruppe Peter, Paul & Mary, gemeinsam mit dem Dave Brubeck-Trio, die das Lied mit einem neuen Text („Because all men are brothers“) versahen, in dem es heißt: „Weil alle Menschen Brüder sind, wo immer sie auch sein mögen. [...] Die Ängste meines Bruder sind auch meine Ängste [...]. Die Tränen meines Bruders sind auch meine Tränen auf der ganzen weiten Welt.“ Ein alter Choral – neu gemacht. Aus Leidenschaft für Menschlichkeit und Solidarität.
Text des Liedes |
1. O Haupt voll Blut und Wunden,
2. Du edles Angesichte,
3. Die Farbe deiner Wangen,
4. Nun, was du, Herr, erduldet,
5. Erkenne mich, mein Hüter,
6. Ich will hier bei dir stehen,
7. Es dient zu meinen Freuden
8. Ich danke dir von Herzen,
9. Wenn ich einmal soll scheiden,
10. Erscheine mir zum Schilde, |