Eltern, Kinder und Corona: Auch Eltern sind Held*innen der Krise
Spätestens seit 16. März mussten Eltern für Krabbelstube, Kindergarten und Schule einspringen – ganz ohne Vorlaufzeit, ohne Einarbeitungs- oder Probephase, ohne die Hilfe von Großeltern. Nebenbei galt es noch, Kindererziehung, Home-Schooling, Haushalt, Homeoffice sowie Partnerschaft unter einen Hut zu bringen. Als wäre dies nicht genug, kamen noch die Sorge um die eigene Gesundheit und die naher Angehöriger, existentielle Nöte, soziale Isolation und des Öfteren auch beengte Wohnverhältnisse hinzu.
Österreichische Studien zeigen, dass dies nicht ohne Folgen geblieben ist. Die Konflikthäufigkeit in Familien ist gestiegen, vor allem Frauen fühlen sich am Ende ihrer Belastbarkeit, Kindern und Jugendlichen setzte die soziale Isolation stark zu.
Bei einer Pressekonferenz am 8. Juni 2020 im OÖ. Presseclub schilderte Primar Dr. Michael J. Merl, wie er die Corona-Krise als Kinder- und Jugendpsychiater erlebt, welche Auswirkungen auf die Psyche von Kindern und Jugendlichen sich jetzt schon feststellen lassen und was Eltern tun können, wenn sie sich Sorgen um ihr Kind machen. Mag.a Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142, und Mag.a Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Projektleiterin des ElternTelefons der TelefonSeelsorge, berichteten aus ihrem Beratungsalltag von den Ängsten und Sorgen von Eltern in der Zeit der Corona-Krise.
V. l.: Barbara Lanzerstorfer-Holzner, Projektleiterin ElternTelefon), Primar Michael J. Merl (Vorstand der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kepler Universitätsklinikum) und Silvia Breitwieser (Leiterin TelefonSeelsorge OÖ – Notruf 142).
Primar Michael J. Merl: „Kinder waren mehr als sonst sich selbst überlassen“
„Viele Familien haben die Situation gut meistern können“, so Primar Michael J. Merl, Vorstand der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kepler Universitätsklinikum. Dennoch stellten die durch Corona bedingten Umstellungen einen enormen Stressfaktor für Familien dar. Aufgrund der Doppelbelastung seien manche Eltern mit der dauernden Anwesenheit der Kinder überfordert gewesen. „Kinder und Jugendliche waren mehr als sonst sich selbst überlassen“, schildert der Kinder- und Jugendpsychiater. Teilweise wurden viele Kinder und Jugendliche „mit Medien ruhiggestellt“, erläuterte Merl. Gerade jetzt, wo der gewohnte Alltag schrittweise zurückkehrt, sei es „wichtig, dass Eltern Kinder wieder ins normale Leben begleiten“, betonte der Experte. „Vor allem dort, wo Kinder ein Rückzugsverhalten zeigen, sollte man sich Hilfe holen.“
Primar Michael J. Merl: „Kinder und Jugendliche waren mehr als sonst sich selbst überlassen.“ © Diözese Linz / Waselmayr
Barbara Lanzerstorfer-Holzner: Corona als Brennglas für dysfunktionale Beziehungen
Auch die Elternberatung der TelefonSeelsorge – Notruf 142 war während des Shutdowns eine wichtige Anlaufstelle für Hilfesuchende – per Telefon, E-Mail oder Chat. Betroffene – vor allem Mütter – wandten sich in dieser herausfordernden Zeit mit verschiedensten Problemen an das Seelsorgeteam.
Da ist die alleinerziehende Mutter, die aufgrund der Corona-Maßnahmen die ganze Zeit mit ihren Kindern allein und völlig überfordert ist. Oder eine total erschöpfte Mutter eines 14 Monate alten Mädchens, das viel weint. Der Vater des Kindes unterstützt zweimal wöchentlich – sie würde seine Hilfe öfter brauchen. Oder die Mutter eines Erstklässlers, der sehr aufmüpfig ist und nicht lernen will. Seine Mutter arbeitet zusätzlich im Homeoffice und ist mit den Nerven am Ende.
Die Projektleiterin des ElternTelefons der TelefonSeelsorge, Barbara Lanzerstorfer-Holzner, zu diesen und ähnlichen Fällen aus ihrem Beratungsalltag: „Wir haben gemerkt, dass Corona wie ein Brennglas oder ein Mikroskop wirkt, wo Beziehungen dysfunktional sind oder wo es Brüche gibt.“ Durch die räumliche und emotionale Enge sei die Belastung innerhalb der Familie oft gestiegen. Vielen Eltern sei es aber nichtsdestotrotz gelungen, ihren Kindern Halt zu geben und den Alltag zu strukturieren. Deshalb zählen auch Eltern zu Systemerhalter*innen. „Auch Eltern sind Held*innen der Krise“, ist Lanzerstorfer-Holzner überzeugt.
Barbara Lanzerstorfer-Holzner: „Auch Eltern sind HeldInnen der Krise.“ © Diözese Linz / Waselmayr
TelefonSeelsorge: Vertrauliche, kostenlose Hilfe rund um die Uhr
Silvia Breitwieser, Leiterin der TelefonSeelsorge, ermutigt Eltern, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn die Belastung zu groß wird: „Eltern zu sein, ist eine Lebensaufgabe und derzeit noch kräfteraubender als sonst. Viele Eltern sehen sich durch diese noch nie dagewesene Situation mit sehr intensiven Emotionen konfrontiert. Sollte die Situation in der Familie zu belastend werden, ein Konflikt nicht mehr lösbar erscheinen, das Familienleben aus den Fugen geraten, sollten Eltern nicht zögern, sich Hilfe zu holen – das ist keine Schande. Hilfe holen heißt, Verantwortung wahrnehmen.“
Das ElternTelefon der TelefonSeelsorge, das vom Familienreferat des Landes unterstützt wird, ist in solchen Situationen ein erster Ansprechpartner. Unter der Nummer 142 ist es an allen Tagen des Jahres rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos erreichbar. Und das innerhalb der eigenen vier Wände, in der Akutsituation, ohne den eigenen Namen nennen oder einen Beratungstermin vereinbaren zu müssen. Die Mail- und Chatberatung können anonym und kostenlos auf www.onlineberatung-telefonseelsorge.at in Anspruch genommen werden.
Presseunterlagen zum Nachlesen
Silvia Breitwieser: „Hilfe holen heißt, Verantwortung wahrnehmen.“ © Diözese Linz / Waselmayr