Samstag 9. November 2024

Was Franz Jägerstätter in Ybbs gelernt hat

Franz Jägerstätter. © Jägerstätter

Die St. Pöltner Kirchenzeitung "Kirche bunt" bittet um Mithilfe und fragt nach Erzählungen und Informationen über die Vorgänge rund um die Euthanasie in Ybbs. Was das mit Jägerstätter zu tun hat, schreibt Kirche bunt in ihrem Artikel.

Der Zufall hat Franz Jägerstätter für eine Nacht nach Ybbs geführt. Dort hat er von der Euthanasieaktion des nationalsozialistischen Staates erfahren. An die 2300 Patient/innen des psychiatrischen Krankenhauses Ybbs wurden ermordet. Der Aufenthalt in Ybbs war für Jägerstätter ein wichtiger Baustein, den Kriegsdienst zu verweigern. Am 9. August 1943 wurde er hingerichtet.

Franz Jägerstätter wird im Oktober 1940 nach Enns in die Alpenjägerkaserne einberufen, um seine militärische Grundausbildung zu absolvieren. Im Rahmen einer Übung ist ein Tross an Wagen und Soldaten ins Waldviertel nach Hirschbach unterwegs. Jägerstätter, der Bauer und Mesner aus St. Radegund, muss ein Pferdegespann lenken und die Tiere betreuen. Der Konvoi machte am 27. Februar 1941 für eine Übernachtung in Ybbs Halt. 

„Traurige Szenen“

 

Jägerstätter schreibt über diesen Tag an seine Frau Franziska: „…Ybbs: ist eine ganz schöne Stadt an der Donau. Es ist hier eine ziemlich große Irrenanstalt, die schon einmal stark besetzt war. Jetzt sind halt wahrscheinlich auch die Narren gescheit geworden. Liebe Gattin, es soll schon auf Wahrheit beruhen, wie du mir einmal erzählt hast, was mit diesen Leuten geschieht. Wie uns ein Bauer, wo wir einquartiert sind, erzählte, sollen sich hier schon traurige Szenen abgespielt haben.“  
In der Biografie von Jägerstätter bildet Ybbs nur eine Fußnote. Doch zu der Reihe von Motiven, die zu seiner Kriegsdienstverweigerung führten, ge­hört die Konfrontation mit der Eu­thanasie ganz wesentlich dazu. Das betonte seine Ehefrau Franziska immer wieder: „Bei der Ausbildung haben sie ihn sehr sekkiert, weil er frömmer war als die anderen. Dort hat er auch von Hartheim erfahren. Für den, der so viele Leute umbringt, kann ich nicht kämpfen, hat er gesagt. Er ist ganz anders geworden, nachdem er heimgekommen ist.“

Euthanasie-Programm

 

Was könnte jener Bauer aus Ybbs erzählt haben, bei dem Jägerstätter für eine Nacht einquartiert war und den er im Brief an seine Frau Franziska erwähnt? Der Name des Landwirts ist nicht mehr zu erheben, Eckpunkte dessen, was Jägerstätter erfahren hat, lassen sich aber festmachen. So sind die Daten der Transporte der Ybbser Patient/innen genau dokumentiert. In insgesamt 31 Transporten wurden 2277 Personen von Ybbs nach Hartheim gebracht, um dort im Rahmen des Eutha­nasie-Programms der Nationalsozialisten vergast zu werden. In dieser Zahl sind auch 913 Personen aus der Pflegeanstalt „Am Steinhof“ (Wien) enthalten, für die der Aufenthalt in Ybbs eine Durchgangsstation nach Hartheim war.
Der erste Transport mit 100 Personen verließ Ybbs am 20. August 1940, der letzte am 16. Mai 1941. Franz Jägerstätter war am 27. Februar 1941 in Ybbs und hat vor Ort aus erster Hand von den Vorgängen erfahren.

Die „traurigen Szenen“, die Jägerstätter in seinem Brief anspricht, hängen mit den Umständen der Transporte zusammen. Die Nachrichten darüber sind zwar äußerst spärlich, aber die wenigen Informationen, auf die man da und dort in der Literatur über Ybbs stößt, lassen erahnen, was damit gemeint ist: „Es kamen meist zwei Busse in den Innenhof der Anstalt, das Einsteigen in die Busse wurde rasch durchgeführt. Patienten, die aufgrund der Abfahrt miss­trauisch, aber auch aufgeregt waren, wurden Spritzen verabreicht. Manchmal kamen sogar Handschellen zum Einsatz. Natürlich gab es auch Anstalts­insassen, die vor Freude aufgeregt waren.“

Über die „Durchgangspfleglinge“ aus Wien heißt es, dass sie in Ybbs auf dünnen Matratzen in Riesensälen auf dem Boden schlafen mussten. In der Ybbser Pfarrchronik ist zu lesen, dass die Patienten „in der ärgsten Winterkälte, ohne jeden Schutz gegen dieselbe, in großen geschlossenen Lastkraftwagen weggebracht wurden“. 
Noch weniger als vom Ablauf der Wegführung weiß man von der Reaktion der Ybbser Bevölkerung – obwohl die Anstalt mit rund 300 bis 450 Beschäftigten nach der Metallwarenfabrik Wüster (etwa 600 Arbeiter) das zweitgrößte Unternehmen der Stadt gewesen sein soll. Andererseits unterstand die Anstalt auch damals der Stadt Wien, die gesamte Anlage war von einer Mauer umgeben und nur wenige Patienten hatten Kontakt zu Personen außerhalb der Anstalt.

Überraschend offen spricht die Situation ein Täter an. Aus der Anstalt Mauer-Öhling zwar, aber aufgrund der Nähe war der Informationsstand und die Einstellung der Bevölkerung von Ybbs und Umgebung sicher gleich. Dr. Michael Scharpf, der  nationalsozialistische, ärztliche Direktor der Anstalt Mauer-Öhling, schreibt am 24. Jänner 1941 an den Gauleiter von Niederdonau: „In den Gemeinden der Umgebung (...) muß ich mich beschimpfen lassen als einen Lügner; sie weisen darauf hin, dass ich ihre Angehörigen habe umbringen lassen (…).“

Was das Schreiben von Scharpf zeigt, bestätigt heute die historische Forschung: Die Bevölkerung des Mostviertels, wo sich die beiden großen psychiat­rischen Anstalten Mauer-Öhling und Ybbs befinden, dürfte bereits in den ers­ten Monaten des Jahres 1941 in groben Zügen über das Ausmaß der Euthanasie im Klaren und dagegen sehr aufgebracht gewesen sein. Von dieser Stimmung in der Bevölkerung ist der „Ybbser Bauer“ ein beredtes Beispiel: Er erzählt einem wildfremden Soldaten, der Jägerstätter für ihn ist, offen über die Euthanasie. Wenn er damit an den „Falschen“ geraten wäre, hätte das die Einlieferung in ein KZ bedeutet. 

Aber für Jägerstätter wird diese, wenn auch nur kurze Begegnung in Ybbs zu einem aufrüttelnden Erlebnis – zu einem Baustein für seine Kriegsdienstverweigerung. In den folgenden zwei Jahren ist er durch intensives Gebet und Fasten, bei der Lektüre der Bibel, im Gespräch mit seiner Ehefrau Franziska und mehreren Priestern zu der folgenschweren Entscheidung gelangt, dass er als gläubiger Katholik dem gottlosen Hitler-Regime nicht mit der Waffe in der Hand dienen darf. Als er im Frühjahr 1943 eingezogen wurde, sagte er Nein. „Er würde gegen sein religiöses Gewissen handeln, wenn er für den nationalsozialistischen Staat kämpfen würde. Es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen“, wird seine Einstellung in der Urteilsbegründung des Reichskriegsgerichts wiedergegeben. Am 9. August 1943 wurde Jägerstätter wegen Wehrkraftzersetzung in Brandenburg bei Berlin enthauptet, am 26. Oktober 2007 seliggesprochen.     Josef Wallner
 

Kirche bunt bittet um Mithilfe

 

Um die Geschichte von Franz Jägerstätter genauer beschreiben zu können, bittet Kirche bunt um Ihre Unterstützung: Wer aus eigenem Erleben Informationen über die Vorgänge rund um die Euthanasie in Ybbs oder aus der Umgebung hat, Erzählungen von Großeltern oder Eltern kennt oder womöglich Fotos besitzt, möge bitte mit der Redaktion Kontakt aufnehmen oder diese direkt an die Redaktion schicken: Kirche bunt, Gutenbergstraße 12 3100 St. Pölten, Tel. 02742/802-1335, Fax-DW: 1340; E-Mail:  redaktion@kirchebunt.at (jede Zuschrift und jedes Telefonat wird streng vertraulich behandelt).

 

 

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