Was sagt die Bibel zur Krise?
Es ist die eigentlich spannende Zeit, die jetzt anbricht, wenn sich geisterhafte Stadtzentren langsam wieder zu füllen beginnen und die Frage laut wird: „Wie weitermachen?“ Auch wenn sich viele Menschen wünschen, das Rad der Zeit zurückzudrehen und dort anzuknüpfen, wo im März jäh unterbrochen werden musste, scheint die Realität anders zu laufen. Unser soziales, wirtschaftliches und kulturelles Leben wird sich verändern – allein schon aufgrund der veränderten Gegebenheiten. Damit stehen wir vor Entscheidungen. Das ist – im positiven Sinne des Wortes – Krise. Krise leitet sich – zumindest von seinem griechischen Ursprung her – von „sich entscheiden“ ab. Da Menschen, sowohl einzelne als auch ganze Gesellschaften, Entscheidungen nur allzu gerne vor sich herschieben, wird die Krise zu dem Punkt, an dem Entscheidungen unaufschiebbar werden. Ist es die radikale Option für den Schutz unserer Welt? Ist es das bedingungslose Grundeinkommen? Ist es die schreckliche Zukunftsvision eines totalitären Staates, der Sicherheit und Gesundheit um den Preis der Freiheit erkauft? Viele Perspektiven tun sich jedenfalls auf, diese Krise zu gestalten.
Biblische Krisen
Nichts Menschliches ist der Bibel fremd – erst recht nicht die Krise. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich: In den biblischen Büchern wird von einer Krise zur nächsten erzählt. Kriege, Hungersnot, Naturkatastrophen, Seuchen, Misswirtschaft, Deportationen, politische Unterdrückung, Diskriminierung… über jedes dieser katastrophalen Ereignisse ließen sich zahllose Bibelstellen anführen. Doch auch wenn das Weitwinkelobjektiv beiseite gelegt und der Fokus auf Einzelpersonen gerichtet wird, so erkennt man auch hier, dass sich persönliche Krisen durch die Bibel ziehen wie ein roter Faden: Glaubenskrisen, Versklavung, Ungerechtigkeit, Familiäre Krisen, Kinderlosigkeit, unermessliches Leid und Krankheit, finanzieller Ruin. Allein das Buch Hiob steht in der Ratlosigkeit um die Brutalität des Dramas menschlichen Lebens den Situationen in nichts nach, in die jetzt gerade Menschen geraten sind, die in kurzer Zeit Einkommen, Haus und geliebte Menschen verloren haben. Spannend ist dabei zu beobachten, wofür sich Menschen in biblischen Erzählungen entscheiden, welche der Optionen sie wählen, um diese Krise zu bewältigen.
Die Wirkung der Krise
Allen diesen biblischen Krisenerfahrungen ist zu eigen, dass sie nicht ohne Wirkung bleiben. Krise bewirkt Veränderung. Diese Erkenntnis bleibt nicht der Bibel vorbehalten, sondern findet sich häufig: vom antiken Epos bis hinein in gegenwärtige Corona-Analysen. Biblische Zugänge zu Krisen haben allerdings einen entscheidenden Unterschied. Krisen verändern das Gottesbild. Ob durch die Deportation nach Babylon, die Erfahrung von Verfolgung oder die Zerstörung des Tempels, aus jeder Krise heraus wird der Blick auf Gott um eine Perspektive reicher – vorausgesetzt, sie führt zur richtigen Entscheidung. Denn falsche Gottesbilder scheitern an den Krisen. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn sie einhergehen mit dem Verlust von Macht, Reichtum und Einfluss religiöser Eliten.
Dieser Kontrast wird in einer der folgenreichsten Krisenerfahrungen der Religionsgeschichte deutlich: dem Karfreitag. Die Hinrichtung Jesu als Verbrecher am Kreuz ist die endgültige Absage an alle Allmachtphantasien, die im Messias Gottes einen neuen politischen Herrscher herbeisehnen, der die Feinde unterjocht zugunsten des eigenen Volkes. Den Evangelisten war diese Reflexion sehr bewusst. Nirgendwo sonst, stellen sie so häufig und vieldimensional die Königsfrage als in den Passionserzählungen. Doch nicht nur im Ringen um Macht und Ohnmacht, sondern auch in der Frage dem von Gott gestifteten Heil, dem Leben in Fülle, bewirkt die Krise des Karfreitags eine beispiellose Neuorientierung. Der Glauben an den auferweckten Christus, die Erfahrung uneingeschränkten Lebens aus der fruchtlosen Asche des Todes wird zum eigentlichen Geburtsmoment der Kirche.
Die Kirche: Krisenerprobt?
Wenn wir die biblischen Krisenerfahrungen ernstnehmen, dann muss auch diese Krise mehr sein, als eine temporäre Katastrophe für Wirtschaft, Kultur und Gottesdienstbesuch. Dann kann auch die Herausforderung Corona Anstoß und Wendepunkt für eine Kirche sein, die in ihrem Auftritt und ihren Fragestellungen weit weg ist von den Uranfängen des Glaubens. In der Corona-Zeit zeigt sich deutlich, dass die brennenden Themen der Menschen nicht die sind, ob ein Fernsehgottesdienst zur Erfüllung der Sonntagspflicht genügt oder ob die Kelchkommunion aus hygienischen Gründen den Priestern vorbehalten bleiben muss. Sondern ob es der Kirche wahrhaft ein Anliegen ist den Menschen trotz aller Schwierigkeiten nahe zu sein: Jenen die plötzlich in Armut geraten sind, jenen, die an ihrer Isolation zugrunde gehen oder jenen, die im Begriff sind, an schwerer Krankheit zu sterben, ohne irgendeine Begleitung.
Die Krise macht deutlich: Kirche muss mehr sein, als die Kirchenräume und ihre darin stattfindenden Gottesdienste. Ansonsten wird sie system-irrelevant. Auch wenn skurril anmutende Feier- und Segnungspraktiken im Licht medialer Aufmerksamkeit für kurze Zeit aufflackern, wird unmissverständlich klar: Ohne Bildung, Caritas und gelebter Gemeinschaft, ohne dem Wachhalten des Wortes Gottes in den vielen Dimensionen dieser Welt, ist Kirche nur noch hohle Scharade inmitten von zu Theaterkulissen ausstaffierten Domhallen – deren Verlust in Zeiten der Krise verschmerzbar ist. Die Frage bleibt, wofür sich Kirche und Gesellschaft in diesen Zeiten entscheiden.
Reinhard Stiksel