Ich seh', ich seh'...
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Oft und gerne haben wir dieses einfache Spiel mit unseren Kindern gespielt. Vor allem dann, wenn wir auf engen Raum begrenzt waren und keinen einfachen Zugriff auf Spielgeräte hatten. Man braucht für dieses Spiel ja nur offene Augen und ein wenig Phantasie.
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Dieses Spiel ist gerade deshalb so spannend, weil es bewusst macht, wie sehr unsere Blickwinkel unterschiedlich sein können, und der andere etwas ganz anderes im Blick haben kann, als ich selber. „Was der alles sieht!“, habe ich mich dabei oft erstaunt gefragt.
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Bei diesem Spiel muss ein kurzer Hinweis genügen – „… und das ist blau (oder rund)“ – und daran muss der andere das Gesehene entdecken. Ach Gott, was ist denn nicht alles blau! Und wie oft bin ich blind für dieses Blau! Sagt es etwas aus über uns Erwachsene, wenn Kinder dieses Spiel besser beherrschen als wir?
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Das könnte eine Einladung sein, einmal mit anderen Augen zu sehen. Oder auch, zumindest für einen Augenblick, den Standpunkt des anderen einzunehmen. Vielleicht, um dadurch in der Einsicht gestärkt zu werden, dass ich nicht alles sehen kann, nicht alles gut und umsichtig genug sehen kann. Der Blick des anderen kann mir da helfen, er ist eine Chance auf Sichterweiterung.
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Das könnte, gerade jetzt, bewusst den Blick auf das lenken, was der Fluss des Alltags so leicht übersieht, was in den Pflichten und Aufgaben so schnell untergeht. Was ist es, wofür ich stehen möchte? Was ist es, was ich bewirken möchte? Was ist es, woran ich mich in allem halten möchte? Die fundamentalen Fragen werden wichtiger, je weniger Ablenkung möglich ist.
„Ich seh', ich seh', was du nicht siehst!“ Das Spiel funktioniert nur im Miteinander, alleine kann man es nicht wirklich spielen. Und es funktioniert einzig in der Kommunikation, die hin und her geht zwischen Dir und mir. Und das Spiel verliert dort seine Qualität, wo ich mich nicht mehr einlasse auf den anderen – wo ich alles besser wissen will und nur mehr herumnörgle.
Dieser „spielerische“ Text wurde vom Evangelium zum 4. Fastensonntag (= 9. Kapital des Johannesevangeliums) inspiriert: Die Pharisäer fragten im Anschluss an eine Blindenheilung Jesu: „Sind etwa auch wir blind?“
Franz Küllinger, Pfarrassistent Wartberg ob der Aist