Die Mitte körperlich spüren
Stehen Sie gerne in der Mitte? Wo ist für Sie hier im Dom die Mitte?
Wenn ich vom Turm aus durch das Langhaus gehe, komme ich nach 86 Schritten zur Mitte, also zu einem Bereich, der mich magisch anzieht. Der Platz hier ist acht Schritte lang und sieben Schritte breit. Diesen Bereich habe ich am 8. Dezember 2017 nach der Altarweihe anlässlich der Umgestaltung gezielt umkreist und seither ist er mein besonderer Platz geworden. Er ist nach der Auswahl der anderen Domfrauen für mich übriggeblieben - und ich bin dankbar dafür.
Links und rechts vom Kreuzungsbereich zwischen den vier Säulen davor befinden sich Bänke, vor mir der neugeschaffene Ambo und hinter mir der ungedeckte Altar – oder umgekehrt, je nachdem, wie ich stehe. Von hier aus habe ich Einblick ins Querschiff, sehe die mächtigen über 100 Jahre alten Rosettenfenster – das sogenannte Friedensfenster im Osten und das Kriegsfenster im Westen mit den jeweils dazu passenden Symbolen - und die darunter befindlichen kleineren Fenster aus 1993 von Karl-Martin Hartmann. Vor mir im Langhaus zieht der 15 Meter hohe Baldachinaltar mit dem 4 Meter hohen vergoldeten Kreuz meinen Blick an. Hinter mir sehe ich die Säulenreihe bis hin zur Rudigierorgel - oder umgekehrt, je nachdem, wie ich stehe.
Mich interessiert der Steinboden hier in der Mitte und ich gehe hin und her. Wo kreuzen sich die Diagonalen? Wo ist der Kreuzungspunkt? Ich entdecke vier Quadrate mit insgesamt fünf Kreuzen im Boden. Das Kreuz in der Mitte ist mein Kreuzungspunkt, den ich umkreise und betrete. Hier kann ich stehen, meine Arme heben, mit meinem Körper ein Kreuz bilden und mich drehen und wenden. Hier kreuzen sich für mich symbolisch Glaube und Leben.
Hier ist die Mitte zwischen Altar und Ambo. Diese geometrische Mitte ist frei geblieben bei dieser Umgestaltung. Sie symbolisiert für mich das Geheimnis Gott. Die Mitte ist frei geblieben, weil die liturgischen Orte Altar und Ambo bewusst nicht in die Mitte gerückt wurden. Die Mitte ist leer geblieben und die Orientierung auf sie ist zweifellos stimmiger als die zwanghafte Orientierung nach Osten, die im Dom gar nicht gegeben ist. Diese Mitte kann ich umkreisen und zu ihr auf Distanz gehen.
Nach der Zeit des Suchens und Entdeckens setze ich mich in die erste Bank des Querschiffs und beobachte die anderen Menschen. Die meisten bleiben links oder rechts vor meiner Mitte stehen, manche betreten sie zum Fotografieren, andere queren sie, einer bleibt im Durchgehen stehen um sich Richtung Hochaltar zu verneigen. Meine Mitte – ich nenne sie auch „passage“ - war in den letzten Jahren auch für mich ein Durchgangsbereich bei meinen Besuchen im Dom. Ich habe den Bereich häufig durch das Ostportal betreten und bin dann zum Modell der Türmerstube gegangen, das bis zur Umgestaltung im Querschiff Richtung Westportal gestanden ist und auch jetzt wieder neu dort errichtet wurde.
Mein Hut mit den beiden Federkielen und den Perlen passt übrigens genau zu meinem Ort: die Federkiele kreuzen sich im Kreuzungspunkt und die Perlen weisen auf die Passage hin. Die Hutmacherin Susanne Dullinger hat das schnell erkannt und mir diese Gestaltung vorgeschlagen.
Wenn ich die Mitte genauer betrachte, sehe ich am Boden links und rechts zwei Einschnitte und vorne und hinten jeweils eine Stufe nach oben. Ich denke an die Handwerker, die das Fugenbild der alten und der neuen Fliesen in Einklang gebracht haben. Die Einschnitte zeugen davon, dass dieser Boden durch eine Scherenhubbühne gehoben werden kann. Hier bin ich schon einmal gestanden, als sich bei der Vorbereitung auf einen Gottesdienst der Boden dem Niveau der gesamten Altarinsel angeglichen hat. Das Gefühl, aufgehoben oder abgesenkt zu werden – auch körperlich, nicht nur geistig – war schön.
Der Künstler Heimo Zobernig und das Architektenteam Kuehn/Malvezzi haben diese Altarinsel hier in die Vierung, in die Mitte des Doms gesetzt. Ihnen war wichtig, den liturgischen Orten klare und einfache Formen zu geben. Die Neugestaltung bewirkt an meinem Lieblingsort, dass ich aufgerichtet mit Gott in Dialog treten möchte. Und sie bewirkt, dass ich mich als Teil einer Skulptur erleben kann. Das habe ich bisher als Besucherin noch in keinem Dom erlebt.