Letztlich siegt immer das Leben
Alles wie immer?
Unwirklich. Das ist das Wort, das mir in Zusammenhang mit der derzeitigen Situation oft in den Sinn kommt. Beim Blick aus dem Fenster scheint alles normal. Rund um mich grünt und blüht es, von draußen dringen Vogelgezwitscher und Kinderlachen an mein Ohr. Frühling, wie jedes Jahr, könnte man meinen. Und doch ist nichts, wie es immer war. Normalerweise würde ich vom Frühling gar nicht so viel mitbekommen im Büro in der Linzer Innenstadt, nur am Morgen, am Abend und am Wochenende. Jetzt, im Homeoffice mit Blick in den Garten, kann ich täglich zusehen, wie Apfelbäumchen und Ginko auf meinem Balkon Blätter ansetzen und wie sich Bienen und Hummeln eifrig an meinen Blumen bedienen. Corona sei Dank? Gleichzeitig fällt mir nach zwei Wochen „Klausur“ in meiner kleinen Wohnung schon die Decke auf den Kopf. Ich vermisse meine Lieben, würde einfach gern „auf einen Sprung“ bei ihnen vorbeischauen, mit meinem kleinen Großneffen in den Zoo gehen und mit meiner Nichte bei einem Spaziergang von Angesicht zu Angesicht plaudern. Was vorher selbstverständlich war, wofür aber immer so wenig Zeit blieb, das ist derzeit unerreichbar. Alles nicht für Geld zu kaufen und doch so wertvoll … Und sehr schmerzhaft, weil es nicht möglich ist.
Exerzitien der anderen Art
Das Corona-Virus ist nicht greifbar und stellt doch das gewohnte Leben auf den Kopf. Dankbar bin ich dafür, dass die Veränderung in meinem Leben nur „Homeoffice“ heißt – und natürlich „Social Distancing“. Für andere bedeutet es: Arbeitsplatzverlust, Existenzangst, Lebensbedrohung. Wenn wieder einmal die Nerven blankliegen, denke ich bewusst daran, wie gut ich es erwischt habe in dieser Situation. Und dennoch: Leicht ist es auch für mich nicht – und ich finde es wichtig, mir das einzugestehen und es auch manchmal anderen zu sagen. Es fühlt sich ein bisschen an wie „Exerzitien der anderen Art“ – nur dass meine Schweigeexerzitien sonst 10 Tage dauern, und diesmal ist das Ende nicht absehbar. Es ist zwar kein durchgehendes Schweigen und es gibt natürlich auch Ablenkungen wie Arbeit oder Fernsehen. Aber insgesamt ist es doch so, dass die Corona-Krise mich auf mich selbst zurückwirft, dass Themen hochkommen, die sonst weniger Raum haben, dass „Altlasten“ in der Wohnung und in der Seele wieder mehr präsent sind. Also doch eine richtige österliche Bußzeit …
Mit beiden Augen sehen
Ja, es gibt das Belastende, das Mühsame, das Nervenaufreibende. Aber es gibt auch das Schöne, die kleinen Geschenke mitten im Alltag. So haben sich mit meinem kleinen Nachbarn von schräg gegenüber nette Balkongespräche entwickelt. Er zeigt mir aus mehreren Metern Entfernung seine Bagger und andere Spielsachen und freut sich über mein Interesse – und ich freue mich über sein Winken und seine Begeisterung. Bei meinen kurzen Spaziergängen kommt es immer wieder zu schönen Begegnungen mit fremden Menschen, die grüßen, mich anlächeln – das war „vor Corona“ die Ausnahme. Kinder spielen auf einer jetzt „verkehrsberuhigten“ Straße Tennis. Im Supermarkt ruft niemand mehr genervt „Zweite Kassa!“, sondern die Einkaufenden bedanken sich bei der Kassierin für ihre Arbeit. Wann hat es das früher gegeben? Und: Noch nie habe ich mich so über den Frühling gefreut wie heuer. Ich ertappe mich jedes Jahr wieder beim Zweifeln: Wird dieser Baum wirklich wieder austreiben? Es sieht so gar nicht danach aus. Und dann – die ersten zarten Spitzen, dann die Blätter, denen man täglich beim Wachsen und Sich-Entfalten zusehen kann. – Auch in einer Krise gibt es immer beides, das Schöne und das Schwere. Es ist (manchmal überlebens)wichtig zu üben, mit beiden Augen zu sehen. Das heißt: Das Belastende und Traurige nicht verleugnen, aber sich nicht darauf fixieren, sondern auch das Schöne, Heilsame wahrnehmen.
Einsame Krise – gemeinsame Krise
Wenn ich zurückdenke an persönliche Lebenskrisen, dann war da das Gefühl, für mich bleibt die Welt stehen bzw. meine Welt gibt es so nicht mehr. Da tat es weh zu sehen: Für andere geht das Leben ganz normal weiter, die Sonne scheint, als ob nichts wäre – dabei ist sie für mich untergegangen. Und dann, oft nach langen Monaten oder Jahren, der Moment, in dem ich wieder die Schönheit um mich wahrnehme, in dem der Gesang eines Vogels wieder durchdringt zu mir, mich zum Lächeln bringt. Und damit das Wissen: Jetzt geht es bergauf. Die Zeit bis dorthin ist meist relativ einsam – weil andere ja keine Krise haben (sondern vielleicht sogar die beste Zeit ihres Lebens) und damit wenig Verständnis, wenn ein Tief schon sehr lang andauert. Das Besondere an der Corona-Krise ist, dass sie eine kollektive Krise ist. Jeder und jede ist in irgendeiner Weise davon betroffen, viele wirklich existentiell. Dass es allen ähnlich geht, verbindet und lässt echte Solidarität entstehen. Wie oft hören, lesen oder sagen wir in diesen Tagen: „Wir schaffen das!“ Von meiner Nichte kam heute ein sms mit den Worten: „Wir geben die Hoffnung nicht auf!“ Es tut so gut, gemeinsam zu hoffen.
Der Frühling ist DAS Zeichen für Hoffnung, für Auferstehung mitten im Leben. Ich bin unendlich dankbar, dass die Corona-Krise in den Frühling fällt – er macht mir (und hoffentlich auch anderen) täglich neu Mut. Wenn ich den fröhlichen Spatzen zusehe, die sich seit zwei Jahren auf meinem Balkon einquartieren (Mutmacher Wolfgang Roth, ich habe die Vögel zu deinem Vogelhaus! ;-)) und die gerade ihr Nest auspolstern, dann weiß ich: Es geht weiter, und es geht gut weiter. Der Frühling zeigt es mir Tag für Tag. Er sagt mir mit seiner Fülle an Farben, Blüten und Düften: Schau dich doch um – letztlich siegt immer das Leben. Und das ist auch der Grund, warum wir „trotz Corona“ und mitten in Corona Ostern feiern.