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Der Philosoph, Psychologe, Komponist, Maler und Autor zahlreicher Bücher Aljoscha A. Schwarz (heute: Long) macht in seinem Buch „Spring über den Horizont“ mit philosophischen Spielen Lust darauf, die Welt mit anderen Augen zu sehen und in die Welt hinter dem Gewohnten einzutauchen. Lebendige Philosophie, wenn man so will.
Seine 77 Alltagsexperimente bzw. spirituelle Abenteuer laden dazu ein, „neugierig jeden Winkel des Bewusstseins und des Möglichen, des Unbewussten und Unmöglichen“ (S. 9) zu erforschen. Nachdem es sich bei Philosophen wie bei spirituellen Menschen um Suchende handelt, bedarf es für das nachfolgende Spiel nur Neugier, Offenheit und vielleicht ein wenig Mut. Bei diesem Spiel gibt es keinen Sieger und keinen Verlierer. Und doch steht am Ende des Spiels ein Gewinn – oder wie es Aljoscha Schwarz so schön beschreibt: „Öffnen Sie die Tore Ihrer Seele und lassen Sie neue Erfahrungen und Erkenntnisse hinein. Viel Spaß dabei...“ (S. 10)
Philosophisches Spiel: Überflüssig?
Einleitende Gedanken
Was macht ein Ding zu genau diesem Ding? Was macht beispielsweise einen Würfel zu einem Würfel? Ist es ein kleiner, schwarz lackierter Holzblock, der auf jeder Seite kleine kreisförmige Vertiefungen hat, die golden ausgemalt sind? Die Anzahl der goldenen Punkte liegt zwischen eins und sechs. Auf der Seite mit den sechs Punkten ist ein kleiner Kratzer? Oder ist es ein regelmäßiger sechsseitiger Polyeder?
Natürlich wird beide Male ein Würfel beschrieben. Die zweite Beschreibung beschreibt eine abstrakte Idee, die erste ein Individuum. Was macht den ersten Würfel zu eben diesem Individuum? Man könnte sagen: alles. Doch wenn wir einmal jede Spitzfindigkeit beiseite lassen – was ist unbedingt notwendig, damit wir den Würfel noch als denselben betrachten? Ein paar Kratzer mehr. Es bleibt derselbe Würfel. Der Lack abgegriffen und matt, vom Gold in den vertieften Punkten ist kaum noch etwas zu sehen. Es ist immer noch der Würfel aus dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel meiner Kindheit. Doch würde der Würfel zur Kugel abgeschliffen, anders lackiert und mit bunten Häschen bemalt, dann wäre irgendwo dazwischen mein Würfel verloren gegangen. An welcher Stelle? Wohin?
Spielregeln
Dieses Spiel ähnelt ein wenig dem Mikado. Nur nehmen Sie keine Stäbchen von einem wirren Haufen, sondern Teile aus Ihrem Sein. Was könnten Sie von sich wegnehmen und dabei noch Sie selbst bleiben? Welche materiellen, welche immateriellen Dinge? Was bleibt?
Dauer: so lang es dauert
Schwierigkeitsgrad: IV (Vertrackt: Dieses Spiel verlangt ein kräftiges Maß an Überwindung oder geistiger Anstrengung. Nur nicht frustrieren lassen!)
Impuls
Wollen Sie sich nur ungern von Teilen Ihres Selbst trennen? Wie ist es mit Sorgen, Ängsten, Gebrechen, hässlichen Gedanken? Fangen Sie an, mit was Sie möchten. Das Spiel beginnt also sehr angenehm: In der Vorstellung befreien Sie sich von Lästigem. Dann von Überflüssigem, und dann wird es schwieriger...
In sophistischer Laune könnte ich behaupten, dass kein Jota von mir genommen werden könne, ohne dass ich nicht mehr ich wäre. Ich bin ein Ganzes, keine Ansammlung von Teilen. Doch ich bin nicht in sophistischer Laune und beginne mit den groben Äußerlichkeiten. Die Haare und Fingernägel könnten ein paar Millimeter kürzer sein. Das klingt vielleicht lächerlich, aber schon gerate ich ins Nachdenken: Jetzt verändert es mein Ich nicht, wenn ich die Haare schneide – aber wie wäre es vor 25 Jahren gewesen, als ich lange Haare trug? Und ich merke, dass vielleicht sogar Dinge zu einem Ich gehören könnten: beispielsweise die Kleidung. Manche Gruppen scheinen sich mit ihrer Kleidung zu identifizieren. Kleidung kann man kaufen, Haare wachsen nach. Das kann man von anderen Teilen meines Ich nicht behaupten.
Wäre ich noch ich ohne meine linke Hand? Ohne Arm? Eine unangenehme Vorstellung. Wenn ich aber alle Haarspaltereien beiseite lasse, denke ich doch, dass ich immer noch ich wäre, wenn ich ohne Arm auskommen müsste. Oder ohne Beine.
Wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich das makabere Spiel noch weiterführen und überlegen, welche Teile meines Körpers für das Überleben und das Ichgefühl nicht absolut notwendig sind. Arme, Beine, Ohren, Augen, Zähne, Milz... eigentlich fast alles. Umgekehrt ist es leichter. Was ist unbedingt nötig? Herz, Hirn, Nieren, Leber... und auch dafür gibt es künstlichen Ersatz.
Außer für das Gehirn. Bin ich etwa mein Gehirn? Oder gar das Programm, das in diesem Hirn abläuft? Ich versuche mir vorzustellen, dass ich ein „Programm“ oder das Gehirn wäre, ohne etwas anderes. Was täte dieses Programm, dieses Gehirn? Es könnte nicht wie ich Aikido üben, nicht wie ich die Nachbarn mit Versuchen, das Cellospiel zu erlernen, quälen, es könnte nicht wie ich meine Freunde umarmen und mit ihnen lachen.
Wenn weder Programm noch Gehirn das können: Können sie dann wirklich ich sein? Ein großer Teil von mir ist die Welt, die nicht ich zu sein scheint.
In einer merkwürdigen Wendung sehe ich erstaunt, dass ich schon zu viel weggenommen habe. Ich bin nicht nur meine Gedanken, nicht nur meine Gefühle, nicht nur mein Körper. Ich bin all das, mit allen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten.
Und doch ist es gut zu erkennen, dass es einige Dinge gibt, die man ablegen kann, ohne dabei sich selbst zu verlieren.
Der Autor:
Aljoscha A. Long (*1961 in Bonn als Aljoscha A. Schwarz) studierte Psychologe, Linguistik, Philosophie und Musikpädagogik in Toronto und München. Schwerpunkte seiner psychologischen Arbeit sind Hochbegabungs- und Kreativitätsforschung – er arbeitet darum als Berater für hochintelligente, hochsensible und hochkreative Menschen. Daneben schreibt er gemeinsam mit Ronald Schweppe Bücher, großteils zu psychologischen, spirituellen und philosophischen Themen, aber auch Kinderbücher, Romane, Kurzgeschichten und Lyrik. Long ist außerdem musikbegeistert, er ist nicht nur Komponist, er spielt auch leidenschaftlich gerne Cello, Kontrabass und Flöte. Und dann gibt's da noch die Leidenschaft für's Malen und Kampfkünste wie Tai Chi, Aikido, Jiu Jitsu, Wing Tsung oder Fechten. Long ist außerdem Dozent an verschiedenen Einrichtungen. Long ist seit 1984 Mitglied bei Mensa e.V., dem Verein für Hochbegabte. Seit 1989 lebt er in München und Nanning (China).
Das Buch:
Aljoscha A. Schwarz (2004): Spring über den Horizont. 77 philosophische Spiele für Herz und Verstand. Stuttgart: KREUZ Verlag. [leider vergriffen]
Quellenangabe (und ein herzliches Danke an Aljoscha A. Long für das Recht, das philosophische Spiel veröffentlichen zu dürfen):
Schwarz, Aljoscha A.: Spiel 35: Überflüssig? In: Schwarz, Aljoscha A. (2004): Spring über den Horizont. 77 philosophische Spiele für Herz und Verstand. Stuttgart: KREUZ Verlag. S. 92f.