Unvergesslich sind mir die Fotos, die ich als Teenager sah: Bilder eines Konzentrationslager bei der Ankunft von alliierten Soldaten, Leichenberge, Menschen, die nur aus Haut und Knochen bestanden – Das Ergebnis dessen, was Menschen Menschen zufügen. Das hat mich tief getroffen und nicht mehr losgelassen. Jeder ist offenbar zu solchem Handeln fähig. Was führt dazu, dass ein Mensch sich in dieser Weise verführen lässt? Würde ich auch dazu imstande sein? Ich begann allmählich zu begreifen, wie viel Leid wir einander, oft unbewusst, zufügen. Und dass auf diese Weise Schmerz und Leid in der Welt zunehmen, immer dichter und verstrickter werden. Ich begann zu verstehen, dass es kein Leid in dieser Welt gibt, das nicht auch mein Leid wäre, und kein Leid, das ich nicht mitverursacht hätte, für das ich nicht mitverantwortlich wäre.
Was kann ich dagegen tun? Wie kann ich meine Verantwortung für die Schöpfung zum Ausdruck bringen? Wie kann ich meinen Glauben an Schönheit, Wahrheit, Solidarität, Versöhnung, an die Liebe im Alltag leben? Es war die Zeit, als Amerika den Krieg gegen den Irak begann. Ich fühlte mich so ohnmächtig, nichts dagegen tun zu können. An Demonstrationen teilzunehmen, war nie meine Sache. Kann ich etwas verändern, kann ich meinen Beitrag leisten, indem ich selbst anpacke?Wie können wirin unserem täglichen Leben Mitmenschlichkeit spürbar machen?
So begann meine Arbeit mit Obdachlosen. Während vieler Jahre hatte ich auch – wie viele – einen großen Bogen um diese Menschen gemacht, vielleicht aus Scheu und/oder Angst. Ich hörte einen Vortrag von Pfarrer Pucher, der in Wien ein VinziDorf nach dem Vorbild des VinziDorf Graz auf die Beine stellen wollte. Er sprach von der „Sünde der Distanz“ und der „bedingungslosen Akzeptanz“. Damit konnte ich etwas anfangen.
Im April 2006 eröffneten wir die Notschlafstelle VinziRast. Seither nächtigen dort täglich bis zu 60 Menschen. Sie erhalten ein reichhaltiges Abendessen, frische Kleidung, Duschmöglichkeit, ein sauberes Bett, eine ruhige Nacht und ein Frühstück. Um 8.00 früh verlassen sie die Notschlafstelle, wer will auch mit Proviant für den Tag. Um 18.30 wird wieder aufgesperrt.
Bedingungslose Akzeptanz meint bei uns: Solange wir ein Bett frei haben, wird jeder aufgenommen, Männlein wie Weiblein, Österreicher oder Bürger jeglicher Nation, alkoholkrank oder Drogen abhängig, psychisch oder physisch krank – solange keine individuelle Betreuung nötig ist. Pärchen schlafen in einem Bett, Hunde dürfen mit herein. Bedingungslose Akzeptanz eben, für 30 Tage. Verlängerungen sind möglich und werden im Team entschieden. Es gibt zwei große Schlafräume, die ineinander übergehen, also keine Einzel- oder Mehrbettzimmer.
Kein Urteil, kein Vorurteil, keine Erwartungshaltung stehen bei unserem Tun im Vordergrund. Wir tun ganz einfach was zu tun ist. Wir bemühen uns um eine Atmosphäre der Offenheit, des selbstverständlichen Miteinander. Wir nehmen die Menschen ernst – auch wenn die Verständigung auf verbaler Ebene oft schwierig ist. Irgendwie gelingt es! Nach nichts, sagen die Gehirnforscher, hätte der Mensch mehr Sehnsucht als nach dem anderen Menschen und danach, bemerkt, gesehen, anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Nichts kränkt den Menschen mehr, als von anderen Menschen übergangen, übersehen, „nicht einmal ignoriert“ zu werden.
Dankbar erleben wir täglich, wie sehr wir uns selbst helfen, indem wir anderen helfen. Es öffnet uns für die Erfahrung der wechselseitigen Verbundenheit des Lebens. Wir gehören alle zusammen. Das ist die Essenz. Und vielleicht tragen wir dazu bei, dass an einem winzigen Platz unserer Welt nicht weiteres Leid zugefügt wird. Wenn es gelingt, Gemeinschaften zu schaffen, in denen jeder und jede wachsen, sich entfalten, vor allem Selbstvertrauen finden kann, dann macht das Sinn. Bei Vaclav Havel habe ich gelesen: „Hoffnung meint nicht, dass das, woran wir glauben, in Erfüllung geht, sondern die Überzeugung, dass das, was wir tun, Sinn macht.“
(Cecily Corti)
Der Artikel erschien in der Dezemberausgabe der Zeitschrift "Der vierte Tag", 2015