Von hier aus geht es weiter
Wenn ich dem Linzer Dom einen Besuch abstatte, dann tue ich das am liebsten von der Baumbachstraße aus. Betritt man dort – in einem unscheinbaren Winkel neben dem Turm – das Gebäude, dann empfängt einen eine dämmrige, aber großzügige Vorhalle. Kaum eine Person, die hier nicht innehält oder zumindest ihren Schritt verlangsamt. Der Ort scheint die Besucher förmlich zum Stehenbleiben, zum Durchatmen zu zwingen. Und jenen, die den Dom erstmals besuchen, bleibt an dieser Stelle überhaupt erst einmal die Luft weg. Denn nur von hier aus vermögen die Augen den imposanten Raum der größten Kirche Österreichs in seiner vollen Länge zu durchmessen. Die Fluchten der Rundpfeiler, Spitzbögen und Gewölbe (von den Baumeistern des 19. Jahrhunderts in ein mittelalterliches Mäntelchen gekleidet) bilden einen Sog, der unseren Blick lenkt und das Ziel vorgibt.
Aber noch haben wir die eigentliche Kirche ja gar nicht betreten. Die Vorhalle ist ein Zwischenreich; sie hat etwas Unentschiedenes. Zwar befindet man sich bereits im Gebäude, aber von hier aus muss man den Schritt in die heiligen Hallen der Kathedrale erst wagen. Hier kann man noch einmal tief durchatmen und quasi Anlauf nehmen für das Eintauchen in die große Erhabenheit. Dieses Eintreten in den Kirchenraum ist aber eigentlich ein Hinaustreten.
Ein Hinaustreten aus der bergenden Vorhalle und ein Hinaussteigen in eine spirituelle Unabsehbarkeit. Der Eindruck der Unentschiedenheit wird durch die zahlreichen Türen in der Vorhalle noch verstärkt: Holztüren, Glastüren, riesige Portale, Türen zu versteckten Nebenräumen, sogar eine Lifttüre findet sich in diesem Binnenraum. So viele scheinbare Möglichkeiten, die alle zusammen eine Botschaft vermitteln: Die Vorhalle ist kein Ort zum Verweilen, sondern von hier aus geht es weiter.
„Draußen musste der Gast nicht bleiben, sondern meine Tür tat ich dem Wanderer auf“ (Hiob 31.32, Luther-Übersetzung, Edition 1912), spricht der Prophet Hiob. Demgemäß sollen auch die Domtüren den Einkehr suchenden Stadt- und Lebenswanderern offenstehen. Aber halt! Die Hauptportale sind fest verschlossen? Das Entscheidende ist jedoch nicht die Größe der offenen Tür, sondern lediglich die Bereitschaft, einen Durchgang geöffnet zu halten. Im selben Maß sind aber auch die „Wanderer“ gefordert, diese Offenheit zu erkennen und die Türe zu durchschreiten für das Wagnis des Neuen dahinter. Von der Baumbachstraße kommend fädeln sich die Besucher durch einen Seitenzugang in die Vorhalle, der so unrepräsentativ ist, dass sie die darauffolgende Monumentalität umso unmittelbarer trifft. Nicht das Tor ist entscheidend, sondern das Erlebnis dahinter.
So ist es gerade die unscheinbarste Türe in der Vorhalle, die mir besonders viel bedeutet: Hinter der kleinen Holztüre auf der rechten Seite führen 400 Stufen hinauf in den Turm. Dort, in der kleinen Türmerstube, habe ich eine Woche als Eremitin verbracht. Eine Woche geschenkter Lebenszeit – allein mit mir, dem Stundenschlag der Glocken und der Intensität der unzähligen bisher gebeteten Gebete an diesem sakralen Ort. Durch diese kleine Türe bin ich täglich zur Mittagsandacht gegangen; sie war der Ausgangspunkt meiner nächtlichen Streifzüge durch den Dom – mit Stirnlampe und Querflöte; und hinter dieser Türe war jeden Tag ein von eifrigen Händen befüllter Rucksack mit meinem Essen aufzufinden.
Als Eremitin – mit dem Dom als „Wohnzimmer“ – steigt man heraus aus dem Getriebe der Zeit: aus dem Konsumieren, dem Funktionieren, aus den digitalen Schimären und den vermeintlich dringenden Bedürfnissen. Was übrig bleibt, ist das bloße Sein. Nicht nur räumlich scheint man in der Türmerstube über den Dingen zu stehen. Auch der Geist ist bereit zu Höhenflügen. Die Wendeltreppe ist dabei die Nabelschnur zur Realität. Sie verbindet einen mit der Vorhalle und dem Boden der Tatsachen. Das Licht aber, das aus dem abendlich beleuchteten Fenster des Eremiten strahlt, ist die eigentliche Botschaft. Es signalisiert der ganzen Stadt: diese Kirche wird bewohnt; die Kirche lebt!