Der Dom als Gedenkort
„Werde hier nun einige Worte niederschreiben,
wie sie mir gerade aus dem Herzen kommen.
Wenn ich sie auch mit gefesselten Händen schreibe,
aber immer noch besser, als wenn der Wille gefesselt wäre.
Offensichtlich zeigt Gott manchmal seine Kraft,
die er dem Menschen zu geben vermag.“
(aus einem Brief von Franz Jägerstätter )
Wer war Franz Jägerstätter?
Franz Jägerstätter, geb. am 20. Mai 1907, war ein Bauer und Mesner aus St. Rade-gund im Innviertel, der aus seinem Glauben und seinem religiös motivierten Gewissen heraus den Kriegsdienst verweigerte. Er leistete gewaltlosen Widerstand gegen das nationalsozialistische, faschistische Regime, das Millionen von Menschen – Juden, politische Gegner, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle etc. – die nicht der eigenen rassistischen Ideologie entsprachen, auf brutalste Weise ermordete. Für Jägerstätter gingen sein christlicher Glaube und nationalsozialistisches Gedankengut nicht zusammen, weshalb er den Dienst an der Waffe verweigerte. Für seine Entscheidung wurde Jägerstätter mit dem Vorwurf der „Wehrkraftzersetzung“ am 9. August 1943 in Berlin von den Nazis hingerichtet.
Um an die damaligen Ereignisse, seine Überzeugung und sein Martyrium zu erinnern, wurde ihm im Linzer Mariendom im Zuge seiner Seligsprechung 2007 in Form einer Stele ein Gedenkort errichtet; nah daran ist das Bild seiner Frau Franziska Jägerstätter positioniert, die ihm bis in den Tod in Briefen verbunden war – im Herzen freilich auch darüber hinaus. Nach seinem Tod übernahm Franziska Jägerstätter die alleinige Erziehung der Töchter Maria, Rosalia und Aloisia; zur damaligen Zeit wohl alles andere als einfach. Nicht einfach war es außerdem, die Entscheidung ihres Gatten Franz, den sie bis zuletzt unterstützte, den Menschen im Ort und im (Nach-)Kriegsösterreich verständlich zu machen.
Als „Domfrau“ am Gedenkort von Franz Jägerstätter
Lange Zeit war mir die Biographie von Jägerstätter wenig vertraut – ich kannte sie kaum und ließ mich daher nur wenig davon berühren. Die ersten „Einstiege“ in seine Geschichte verbanden sich dann mit unterschiedlichen Gefühlen und gingen zugegeben auch mit kritischen Fragen einher, ob es sich bei seiner Person vielleicht um einen religiösen Fanatiker gehandelt haben mag oder um einen „schwachen Menschen“, dem es an Kraft zu aktivem und organisiertem Widerstand mangelte? Die Bedeutung seiner Entscheidung war mir viel zu wenig bewusst, was wohl mangelnder Kenntnis geschuldet war, um die Tragweite seiner Entscheidung und seines Handelns in die damaligen Kriegswirren und in den schwierigen zeitgeschichtlichen, politischen und auch kirchlichen Kontext angemessen einzusortieren.
In den vergangenen Wochen und Monaten hat sich dies zum einen im Rahmen meiner Tätigkeit bei der Friedensbewegung Pax Christi, wo Franz Jägerstätter bereits seit Jahren gedacht wird und eine wichtige Figur darstellt, verändert. Zum anderen haben sich aber auch mein Interesse an und mein Verantwortungsbewusstsein für politische und gesellschaftliche Entwicklungen ziemlich gewandelt. Heute nehme ich deutlicher Anstoß daran, wenn Menschen ausgegrenzt, in Armut getrieben oder zu Sündenböcken stigmatisiert werden, wenn Gewalt und Diskriminierungen in Sprache und Handeln salonfähig und damit der Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft gefährdet werden. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Tendenzen wie dem Erstarken rechtspopulistischen Gedankenguts und Parteien scheint mir mittlerweile die Frage berechtigt: Wiederholt sich die Geschichte?
Franz Jägerstätter „revisited“ – Vergegenwärtigung seines Zeugnisses als Kraftquelle gegen heutiges Unrecht
Das Leben und das Zeugnis von Franz Jägerstätter mit dem aktuellen Zeitgeschehen zusammengedacht, drängen sich Fragen in unterschiedliche Richtungen auf: Adressiert an Jägerstätter würde mich interessieren, wie er über diese Zeit und gegenwärtige Entwicklungen denkt? Gerne möchte ich mit ihm – dem Kriegsdienstverweigerer – z.B. über Aufrüstung und Waffenlobbys, über die Kriege an so vielen Orten dieser Welt, die Errichtung von Grenzzäunen und Mauern zum Schutz vor Menschen aus Kriegs- und Katastrophengebieten, über brennende Flüchtlingsheime, Tausende im Mittelmeer Ertrunkene, aber auch über Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung und Anfeindungen etc. im Alltag ins Gespräch kommen. Wie würde er darüber denken, was und wieviel würde er dulden, was würde er verurteilen? Und woraus würden sich heute seine Kraft, seine Überzeugung und seinen Mut zum Widerstand speisen?
Gleichzeitig bietet Jägerstätter aber auch eine herausfordernde Folie dafür, genau diese Fragen an mich selbst zu richten: Was und wieviel würde ich riskieren, um mich für Gerechtigkeit und Frieden – im nahen wie im entfernteren Umfeld – einzusetzen? Würde ich mich z.B. als LehrerIn aus Sicherheitsgründen bewaffnen lassen, um mich und andere zu schützen, auch um meinen Job nicht zu riskieren, jedoch im Wissen, im Ernstfall auf jemanden schießen zu müssen? Was und wieviel wäre ich bereit zu unternehmen, um gegen Unrecht, Menschenrechtsverletzungen, Armut und soziale Ungleichheit, aufkeimende nationalistische und/oder rassistische Ideologien, Diskriminierung etc. aufzustehen? Aufwühlende, irritierende und herausfordernde Fragen, die, wenn sie ernsthaft und grundlegend reflektiert werden, aus der Komfortzone herausholen und eine/n in die oft erschreckenden Wirk-lichkeiten dieser Welt „werfen“.
Das Zeugnis Jägerstätters ins Heute zu „übersetzen“ scheint deshalb wichtig, „geht es doch“, wie Diözesanbischof Manfred Scheuer schreibt, „um nicht mehr und nicht weniger als um die Ausbuchstabierung des Glaubens und des Lebens unter den konkreten Bedingungen der Zeit“.
Von der Notwendigkeit des achtsamen Beobachtens und Deutens der „Zeichen der Zeit“
Um – wenn vielleicht auch nicht bis zum Äußersten und das eigene Leben gebend und wenn vielleicht auch aus anderen Gründen – aber doch wie Jägerstätter Widerstand leisten zu können, bedarf es einer Orientierung und eines Maßstabs der Kritik: Für Franz Jägerstätter war dieser Maßstab sein christlicher Glaube und die Hoffnung auf das Reich Gottes. Vielleicht könnte diese Vision, in eher säkularer Sprache formuliert, als das gute Leben in Gerechtigkeit und Frieden für alle Menschen formuliert werden. Um an dieser positiven Utopie arbeiten zu können, gilt es für die „Zeichen der Zeit“ offen zu sein und diese differenziert entlang dieses Maßstabs zu deuten.
Eine Annährung, die „Zeichen der Zeit“ zu verstehen, ist es vielleicht auch – und ganz im Sinne des II. Vatikanums – auf die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ zu hören. Das unweit der Stele aufliegende Buch, mit einem Gedanken Jägerstätters überschrieben, ermöglicht den Vorbeikommenden, ihre Anliegen, ihre Klagen, Gedanken, Bitten und Gebete zu formulieren und vor Gott zu bringen. Das Buch ist damit ein Stück weit Symbol dafür, was Menschen heute bewegt, was sie belastet sie, wovor sie Angst haben und wovor sie Zuflucht suchen, auch dafür, was sie hoffen und wünschen, was ihnen wichtig und lieb ist und was damit ihr Denken und Handeln beeinflusst. Dies gleichwohl anerkennend wie auch kritisch wahr- und ernst zu nehmen scheint mir wichtig, auf diesem Wege auch unsere gesellschaftliche, soziale und politische Wirklichkeit zu verstehen, weil damit vielleicht auch die größeren „Zeichen der Zeit“ nachvollziehbar werden. Weil (mir) die Sorgen und Nöte, die Wünsche und Anliegen der Menschen wichtig sind, aber auch weil ich nicht möchte, dass sich die Geschichte wiederholt, ist dieser Ort im Dom (für mich) ein wichtiger und als Gedenkort notwendiger geworden.